Professor Dr. Rudolf Wendt 

Familienbesteuerung und Grundgesetz

von Univ.-Prof. Dr. Rudolf Wendt, Saarbrücken

 

I. Einleitung

 

Klaus Tipke ist seit jeher einer der eloquentesten, überzeugensten und somit einflußreichsten Befürworter einer sachgerechten und verfassungskonformen Ausgestaltung der Familienbesteuerung. Sein Engagement in dieser zentralen steuerrechtlichen Frage findet auch in seinem großen Werk "Die Steuerrechtsordnung" ihren Niederschlag. Der Verfasser bekennt freimütig, daß die nachfolgend vorgetragenen Überlegungen wesentlich durch die Denkansätze und -ergebnisse geprägt sind, die Klaus Tipke in seinem jahrzehntelangen Ringen um eine gerechte Gestaltung des Steuerrechts im allgemeinen und bei der Suche nach einer angemessenen Ordnung der Familienbesteuerung im besonderen entwickelt und gefunden hat.

 

Wer die "Familienbesteuerung" aus rechtlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher Sicht zu erörtern sich anschickt, muß mit dem Einwand rechnen, er behandele einen Gegenstand, der in Wahrheit im geltenden Recht nicht existiere. Richtig ist, daß im derzeitigen deutschen Steuerrecht eine Besteuerung der Familie als solcher gerade nicht erfolgt. Die Familie, verstanden als Gemeinschaft von Eltern und Kindern, idealiter: als die auf eine Ehe gegründete Gemeinschaft von Eltern und Kindern, ist nicht steuerpflichtig. Nicht einmal eine Haushaltsbesteuerung existiert. Bekanntermaßen folgt unser Einkommensteuersystem vielmehr dem auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen hin angelegten Grundsatz der Individualbesteuerung, auch für den Bereich der Familie. Verstanden als Kurzformel für die Besteuerung der im Ehe- und Familienverband zusammengefaßten Einkommensteuersubjekte hat der Begriff der Familienbesteuerung aber seine Berechtigung. 

 

Eine kürzere und prägnantere Bezeichnung für die zu behandelnde Thematik zu finden fällt schwer. Irreführend wäre insbesondere die - sich immer mehr einbürgernde - Bezeichnung "Familienlastenausgleich" oder "Kinderlastenausgleich". Derartiges erinnert zu sehr an den Lastenausgleich zur Überwindung von Kriegsfolgelasten oder zur Bewältigung der Lasten eines zusammengebrochenen Wirtschaftssystems, erinnert mithin an eine subventionsrechtliche Hilfe bei besonderem, individuell als schicksalhaft erlebtem Unglück. Wenn wir solche Bezeichnungen zulassen, bekommt das Thema von vornherein eine unrettbare Schieflage. Aus der Familie wird eine "Last", dazu noch eine selbstverschuldete. Ist man einmal so weit, gerät die Familie zum Sozialfall, wird sie zum subventionsbedürftigen Ausgleichstatbestand, zum Bittsteller gegenüber Staat und Gesellschaft, dessen Ansprüche man je nach dem Zustand der öffentlichen Kassen befriedigen oder zurückweisen kann. Die eigentliche Frage, nämlich die, wie man dem Willen zur Finanzierung der Familie aus eigener Kraft gerecht werden kann - nicht nur, aber gerade auch aus der Perspektive des Steuerrechts - gerät dabei aus dem Blickfeld. Nur zu oft erscheint die öffentliche Diskussion längst an diesem Punkt angelangt. Offenbar wird das hier artikulierte Unbehagen aber bis zu einem gewissen Grad von denen geteilt, die neuerdings statt von einer Reform des "Familienlastenausgleichs" lieber von einem neuen "Familienleistungsausgleich" sprechen. Der hiermit möglicherweise verbundene Anspruch, Leistungen der Familie gegenüber Gesellschaft oder Staat kompensieren zu wollen, löst jedoch seinerseits Skepsis, jedenfalls aber eine Fülle neuer Fragen aus. 

 

Der Sache nach geht es um eine ehe-, familien- und nicht zuletzt kindergerechte Gestaltung des Einkommensteuerrechts, insbesondere um die steuerliche Berücksichtigung des existentiellen Bedarfs der Familienmitglieder und der innerhalb der Familie zu erbringenden Unterhaltsleistungen. Daß mit diesem Thema angesichts einer über Jahrzehnte geführten Diskussion nicht gerade jungfräulicher Boden beackert wird, versteht sich. Doch geht es auch nicht etwa darum, ein völlig neues Besteuerungsmodell vorzustellen. In diesem Geschäft haben sich gerade in der jüngsten Vergangenheit im Übermaß andere versucht: insbesondere die mehr oder weniger berufenen Politiker und Verbände jedweder Couleur, die dem Publikum unermüdlich immer wieder neue Modelle des sog. Familienlastenausgleichs präsentiert. Dabei lag der Akzent einmal mehr auf Steuererleichterungen, einmal mehr auf der Anhebung des Kindergeldes. Vor den Wahlen in Hessen und Nordrhein-Westfalen verstärkte sich die Neigung sichtbar, den steuerlichen Kinderfreibetrag großzügiger zu bemessen und sich bei der Anhebung des Kindergeldes von niemandem übertreffen zu lassen. Selbst der Bundesfinanzminister, die Rolle des oft gescholtenen Verwalters leergebrannter Kassen offenbar gründlich leid, verwandelte sich vom knausrigen Saulus zum spendierfreudigen Paulus und versprach, fürs erste sechs Milliarden DM für eine Erhöhung des Kindergeldes locker zu machen. Später legte er noch zu und erklärte sich mit einer Erhöhung des Kindergeldes für das vierte und weitere Kinder auf 350 DM einverstanden. Zur Finanzierung der angekündigten echten und vermeintlichen Wohltaten wird nicht selten ein Abbau des Ehegatten-Splittings propagiert, während andere - nicht sonderlich originell - offenbar schlicht die "Besserverdienenden" zur Kasse bitten wollen.

 

Allzu viele tun im Hinblick auf die Reform des sog. Familienlastenausgleichs so, als gelte es, das Rad neu zu erfinden, als handele es sich um eine frei gestaltbare, ganz von der politischen Überzeugung abhängige Materie - wobei eben der vage Begriff "Familienlastenausgleich" den Politikern suggeriert, sie könnten entsprechend ihrer politischen Couleur und sozialpolitischen Prägung das Ausmaß der Familienentlastung bzw. -förderung frei bestimmen. In Wahrheit liegen die Dinge anders. Den Juristen erstaunt, in welch geringem Maße die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung und zur Steuerfreiheit des Existenzminimums zur Kenntnis genommen werden. Selbst dann aber, wenn dies geschieht, bedeutet das noch lange nicht, daß sie auch wirklich beachtet werden. Nur zu oft sind die Politiker entschlossen, den Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber läßt, bis an die äußersten Grenzen auszuschöpfen. So ist es nicht verwunderlich, daß das Bundesverfassungsgericht stets aufs neue durch Grenzüberschreitungen herausgefordert wird. Das Ziel dieses Beitrags wäre erreicht, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht und die Rechtswissenschaft für die Gesetzgebung in der Frage der Familienbesteuerung im Laufe der Zeit entwickelt haben, stärker beachtet würden, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. 

II.         Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und seine           Umsetzung

 

1.         Familienbesteuerung und Leistungsfähigkeitsprinzip

 

Das Verfassungsrecht stellt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Familienbesteuerung insbesondere die Anforderungen der realitätsgerechten, mit dem Sozialhilferecht abgestimmten Steuerfreiheit des Existenzminimums und der realitätsgerechten Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen. Die Steuerfreiheit des Existenzminimums hat das Bundesverfassungsgericht in den grundlegenden Entscheidungen vom 29. Mai 1990 und 25. September 1992 festgeschrieben. Die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen hat es sehr deutlich etwa in dem Beschluß vom 22. Februar 1984 gefordert. 

Beides ist in der Tat notwendige Konsequenz des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit. Dieses ist verfassungsrechtlich fundiert und beansprucht durchgehende Geltung im Steuerrecht. Es trägt dem Umstand Rechnung, daß der Staat bei der Steuererhebung auf das Vermögen zugreift, das der einzelne in Ausübung seiner grundrechtlichen Erwerbs-, Berufs- und Eigentumsfreiheit (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 GG) rechtens erworben hat und das gegenüber diesem Zugriff folgerichtig durch die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie geschützt ist. Die steuerliche Belastbarkeit der Leistungsfähigkeit ist an Hand einer Abwägung des eigentumsgrundrechtlich geschützten Erhaltungsinteresses und des öffentlichen Abschöpfungsinteresses an einem potentiell beanspruchbaren Einkommensteil bzw. Vermögensteil zu ermitteln. Eines der ersten Ergebnisse dieser Abwägung ist, daß das Einkommensteuerrecht nicht das Roheinkommen belastet, sondern den Abzug der zur Erwerbung des Einkommens getätigten Aufwendungen zuläßt.

 

In unserem Zusammenhang geht es - weitergehend - um die Frage des Abzugs der zur Existenzsicherung getätigten Ausgaben. Insofern ist entscheidend, daß Einkommen erworben wird, um den individuellen Bedarf des Erwerbenden zu befriedigen. Es hat daher zunächst den notwendigen Lebensbedarf des Einkommensbeziehers und der ihm gegenüber Unterhaltsberechtigten zu sichern. Es verstieße gegen die Garantie der Berufs- und Eigentümerfreiheit, ja gegen das Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), wenn der Staat dem Einkommensbezieher durch Besteuerung Einkommensteile nähme, die er ihm durch das Sozialrecht zur Sicherung des existentiellen Bedarfs wieder zurückgeben müßte; ja man wird aus der Anerkennung der individuellen Leistung als Grundlage des Erwerbens und damit der Einkommensverteilung darüber hinaus folgern müssen, daß der Erwerbende über mehr Einkommen verfügen können muß als derjenige, der auf bedarfsdeckende Leistungen des Staates angewiesen ist. Aus dem richtig verstandenen Wertungsprinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit ergibt sich daher auch, daß der Staat steuerliche Teilhabe an dem privat erwirtschafteten Einkommen nur beanspruchen kann, soweit die finanzielle Ausstattung dem Bürger eine Teilabgabe seines Einkommens für öffentliche Zwecke erlaubt, soweit also das Einkommen für die Steuerzahlung überhaupt verfügbar ist. In diesem Sinne folgert denn auch das Bundesverfassungsgericht aus dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, daß auch die außerhalb der Sphäre der Einkommenserzielung - also im privaten Bereich - anfallenden, für den Steuerpflichtigen unvermeidbaren Ausgaben einkommensteuerrechtlich beachtet, d. h. in realtitätsgerechter Weise zum Abzug zugelassen werden müssen. Das gilt im Hinblick auf die unvermeidbaren privaten Aufwendungen des Pflichtigen für sich selbst wie auch im Hinblick auf die unvermeidbaren Aufwendungen für die weiteren Familienmitglieder.

 

Daß bei der Besteuerung der Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß, ergibt sich außer aus den bereits genannten Verfassungsnormen auch aus dem in Art. 6 Abs. 1 GG besonders anerkannten Schutz von Ehe und Familie. Das Bundesverfassungsgericht betont insofern zu Recht, daß die Steuerfreiheit des Existenzminimums für die Familie unabhängig davon gilt, wie die Besteuerung im einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden. Auch wenn, wie es in der Regel bei Eltern mit noch nicht selbst verdienenden Kindern der Fall sei, nur einzelne Familienmitglieder ein Einkommen erzielten und diese auf Grund gesetzlicher Verpflichtung für den Unterhalt der weiteren Familienmitglieder aufkämen, müsse das Existenzminimum für die gesamte Familie steuerfrei bleiben. Die hierfür gegebene Begründung trifft zu, hätte aber die weichenstellende Bedeutung der verfassungsrechtlichen Berufs- und Eigentumsfreiheit sowie des Schutzes von Ehe und Familie stärker in den Mittelpunkt rücken müssen: Auch in diesem Fall müsse der Staat, wenn er dem Steuerpflichtigen die Mittel für die Unterstützung der unterhaltsbedürftigen Familienmitglieder entziehe, diese in entsprechender Höhe auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung aus dem Sozialstaatsgebot selbst unterstützen. Überlasse er dagegen in verfassungsmäßiger Weise die Unterstützung dem Bürger, sei es inkonsequent, diesem die dafür benötigten Mittel ganz oder teilweise im Wege der Besteuerung mit der Folge zu entziehen, daß der Staat die Unterstützung des Bedürftigen selbst übernehmen müsse.

 

Im folgenden werden die Steuerfreiheit des individuellen und des familiären Existenzminimums und die realtitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen nicht weiter in Frage gestellt, sondern als verfassungsrechtlich begründete Prämissen einer rechtsstaatlichen, freiheitlichen und sozial gerechten Steuergesetzgebung akzeptiert. Damit wird die Frage nach den Konsequenzen dieser Anforderungen zum zentralen Thema. Dabei zeigt sich sehr schnell: Der Teufel steckt auch hier im Detail .

 

 

2. Neuordnungsaufgabe des Gesetzgebers

 

Wer nur ein wenig die steuerpolitische Diskussion der letzten beiden Jahre mitverfolgt hat, weiß, daß Fragen und Antworten wie die vorgetragenen nicht lediglich Produkte eines wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens sind, das sich selbst genügt. Sie haben vielmehr höchst reale Auswirkungen auf die Politik, können Milliarden-Ströme in Bewegung setzen, umlenken oder zum Versiegen bringen - vor allem dank dem Bundesverfassungsgesricht, das verfassungsrechtlichen Erkenntnissen und Überzeugungen die Umsetzung in die praktische Politik und Gesetzgebung zu sichern vermag. In seinem Urteil vom 25. September 1992 hat das Gericht entschieden, daß die Regelung des Grundfreibetrages in dem seit dem 1. Januar 1990 geltenden Einkommensteuertarif nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot entspricht, das Existenzminimum von der Steuer freizustellen. Wegen der Gesamtwirkung des Grundfreibetrages auf den Tarifverlauf wurde allerdings nicht nur der Grundfreibetrag selbst, sondern der gesamte in § 32 a Abs. 1 S. 2 EStG geregelte Tarif für verfassungswidrig erklärt. Dem Gesetzgeber wurde aufgetragen, spätestens bis zum 1. Januar 1996 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Dieser Auftrag mußte zwangsläufig zu einer stetig wachsenden tagespolitischen Aktualität des behandelten Themas in der jüngsten Vergangenheit führen.

 

Die realitätsgerechte Steuerfreistellung des individuellen Existenzminimums ist nur ein, wenn auch elementarer Baustein der Familienbesteuerung. Die Aufgabe, die Familienbesteuerung im ganzen in verfassungsgemäßer Weise zu regeln, zwingt darüber hinaus zu einem Überdenken der Angemessenheit der Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 6 EStG) und des Ehegattensplittings (§§ 26 b, 32 a Abs. 5 EStG), den zentralen Instituten, mittels derer außer über den Grundfreibetrag der Unterhaltsbedarf des Steuerpflichtigen und seiner Familie berücksichtigt wird. Wegen der implizierten Verfassungswidrigkeit des bisherigen Lohn- und Einkommensteuertarifs bzw. weil die Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums sich auch auf die Besteuerung des Einkommens auswirkt, das dieses Existenzminimum übersteigt, ist eine kritische Überprüfung und Rechtfertigung des Einkommensteuertarifs unerläßlich. Außerdem und zuallererst erfordert eine auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit abgestellte Besteuerung, die für die individuelle und familiäre Bedürfnisbefriedigung und die Steuerzahlung verfügbaren Mittel möglichst lückenlos zu erfassen. Es ist daher eine möglichst vollständige Erfassung des erwirtschafteten Einkommens durch den Gesetzgeber geboten. Werden nicht alle Teile des Markteinkommens berücksichtigt, scheitert der Versuch, das individuelle und das familiäre Existenzminimum realtitätsgerecht anzusetzen, schon daran, daß der Pflichtige "ärmer" erscheint, als er es tatsächlich ist; das Existenzminimum wird unnötig hoch angesetzt.

 

 

III.        Bemessungsgrundlage, persönliches Existenzminimum und    Tarif

 

1.         Allgemeines

 

Eine vollständigere Erfassung des Markteinkommens und damit eine Erweiterung der Bemessensgrundlage der Einkommensteuer könnte die Steuerausfälle auf Grund der erforderlichen Anhebung des Grundfreibetrages zum Teil kompensieren. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist sogar der Auffassung, daß eine weitgehende Kompensation denkbar sei - und das immerhin bei angenommenen Steuerausfällen von 40 Mrd. DM: Er weist zunächst darauf hin, daß bestimmte Kategorien von Erwerbseinnahmen bzw. Einkommenszuwächsen ganz oder teilweise vom Gesetzgeber von der Besteuerung freigestellt werden - so z. B. Zinserträge aus bestimmten Kapitallebensversicherungen, realisierte Vermögenszuwächse im Bereich der privaten Haushalte (Einnahmen aus der Veräußerung nichtbetrieblichen Erwerbsvermögens, nach Ablauf der Spekulationsfristen), bestimmte Lohnzuschläge. Ein beachtlicher weiterer Teil der Einkommen wird nicht deklariert, sondern hinterzogen. Darüber hinaus läßt der Gesetzgeber in großem Ausmaß - meist aus wirtschafts- und sozialspolitischen Gründen - Abzüge von der Bemessungsgrundlage zu, wie Sonderabschreibungen und Sonderabgaben. 

 

Vom möglichst vollständig ermittelten Markteinkommen sind die Teile abzuziehen, die für die Steuerzahlung nicht verfügbar sind und daher keine steuerliche Leistungsfähigkeit beinhalten. Das gilt zunächst für die Aufwendungen, die zur Existenzsicherung des Steuerpflichtigen selbst unabdingbar sind, also vor allem diejenigen für Ernährung, Kleidung, Wohnung. Diese Aufwendungen wären richtigerweise schon von der Bemessungsgrundlage auszusondern. Diesem Erfordernis wird bisher bei der Einkommensbesteuerung nicht entsprochen. Die systematisch richtige Methode wäre, das Existenzminimum bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens in Abzug zu bringen. Statt dessen wird bisher ein anderer Weg gewählt: Das Existenzminimum wird in Form des sog. Grundfreibetrages in den Tarif eingebaut. Die Folge ist: Die tarifbedingte Steuerbelastung setzt erst nach einer "Nullzone" ein. Der systematische Fehler, das zu versteuernde Einkommen um das Existenzminimum überhöht auszuweisen, wird also durch eine fragwürdige Systemdurchbrechung beinm Tarif anzugleichen versucht. Es ist zwar einzuräumen, daß bei beiden Arten der Berücksichtigung des Existenzminimums das gleiche Belastungsergebnis zu erreichen ist. Solange wir aber an diesem Systemfehler festhalten, gibt es im deutschen Einkommensteuerrecht keinen Einkommensbegriff, der die Leistungsfähigkeit methodisch richtig erfaßt. Damit ergibt sich: Wenn Fehlinterpretationen durch den Begriff des "zu versteuernden Einkommens" vermieden werden sollen, ist für die Zukunft auch formal der Abzug des Existenzminimums von der Bemessungsgrundlage zu fordern, damit die Meßfunktion der Bemessungsgrundlage und die Belastungsfunktion des Tarifs klar gegeneinander abgegrenzt werden.

 

 

2. Entwurf des Jahressteuergesetzes 1996

 

Das im Entwurf des Jahressteuergesetzes 1996 zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums vorgestellte Modell genügte diesen steuersystematischen und verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, auch nicht in der überarbeiteten Fassung, die schließlich veröffentlicht wurde. Leitidee dieses Modells war, daß ein "Besserverdienender" den Grundfreibetrag nicht brauche, weil sein Existenzminimum trotz der Besteuerung gewährleistet bleibe. Das Modell sah von Beginn an einen Entlastungsbetrag (§ 34 h EStG) vor, der von der Steuer abgezogen und mit steigendem Einkommen rasch verringert wurde. Auch nach der verbesserten Fassung des Modells blieb es dabei, daß die Freistellung des Existenzminimums nicht wie bisher im Einkommensteuertarif über einen Grundfreibetrag, sondern außerhalb des Tarifes über einen degressiv ausgestalteten Abzug von der Steuerschuld erfolgen sollte. Allerdings wurde der Bereich, über den sich der Abbau der Steuerersparnisse aus der Freistellung erstreckte, im Vergleich zu den ursprünglichen Plänen ausgedehnt. Nunmehr sah das Modell (erst) bei einem Einkommen von mehr als 43.400 oder - bei Verheirateten - mehr als 86.800 DM (vorher 30.000 bzw. 60.000 DM) keinerlei gesonderte Entlastung mehr vor. Immerhin sollten alle Steuerzahler dadurch eine Entlastung erfahren, daß sämtliche Steuersätze um 0,7 Prozentpunkte gesenkt wurden. Durch die Anhebung auf 43.000 bzw. 86.000 DM wurde zwar einer der Angriffspunkte des Modells, der scharfe Anstieg der Steuerprogression für die Bezieher niedrigerer Einkommen, beseitigt, die Einwände gegen den Grundansatz des Modells wurden aber nicht ausgeräumt.

 

Steuersystematisch hätte eine Regelung wie die geplante einen Rückfall weit hinter den erreichten Stand bedeutet. Die Schöpfer des Modells glaubten offenbar - allerdings zu Unrecht - , sich auf eine in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. September 1992 getroffene Feststellung berufen zu können, nach der eine Gestaltung des Einkommensteuertarifs dahingehend für zulässig erklärt wird, "daß die Entlastungswirkung des angemessen quantifizierten Existenzminimums, das zunächst bei allen Steuerpflichtigen berücksichtigt wird, schrittweise kompensiert wird". Denn diese Feststellung darf "verfassungskonform" nur so verstanden werden, daß bei allen Steuerpflichtigen das Existenzminimum realitätsgerecht freigestellt wird. Die hierdurch bei allen Steuerpflichtigen bewirkte Entlastung mag dann schrittweise neutralisiert oder kompensiert werden durch eine Verschärfung der Progression, im Extremfall sogar überkompensiert werden bei hohen Einkommen, wenn der Finanzbedarf des Staates dies erfordert. Unverzichtbares Postulat bleibt aber, daß das Existenzminimum bei allen Pflichtigen sichtbar vom Steuerzugriff ausgenommen bleibt. 

 

Dies war aber nach dem vorgestellten Modell, das ab einer Einkommenshöhe von 43.400 bzw. 86.800 DM das gesamte Einkommen der Tarifbelastung unterwarf - ohne irgendein steuerfreies Existenzminimum in Ansatz zu bringen -, gerade nicht der Fall. Das bedeutete zudem: Auch die Belastungswirkung des Tarifs für den für eine Steuerzahlung überhaupt zur Verfügung stehenden Teil des Einkommens war nicht ersichtlich. Dem Tarif-Gesetzgeber wäre die verfassungsgebotene rationale Abwägung zwischen dem potentiell beanspruchbaren Teil des Einkommens und dem fiskalischen Abschöpfungsinteresse gar nicht möglich gewesen. Er hätte den für eine Steuerzahlung disponiblen Teil des Einkommens ja nicht einmal gekannt. In entlarvender Offenheit pries das Bundesfinanzministerium gerade an dem Entwurf, daß, sobald der neue Tarif erst einmal eingeführt sei, künftige Erhöhungen des steuerfreien Existenzminimums für die mittleren und höheren Einkommen keinerlei Entlastungswirkung mehr haben würden. Wie hätte das auch anders sein sollen: Die "Unrichtigkeit" von Bemessungsgrundlage und Tarif (durch Nichtberücksichtigung des Existenzminimums hier wie dort) sollte ja zum Angelpunkt des neuen Systems der Einkommensbesteuerung werden. Wegen der erklärten Irrelevanz des Existenzminimums für die mittleren und höheren Einkommen hätte künftig niemand gewährleisten können, daß in diesen Bereichen "von den das Existenzminimum übersteigenden Einkommensteilen den Steuerpflichtigen jeweils angemessene Beträge" verblieben - eine Forderung immerhin, die das Bundesverfassungsgericht zu Recht ausdrücklich aufstellt. Das Verfassungsrecht erlaubt hier keine rein quantitative, sondern verlangt eine qualitative Betrachtungsweise.

 

 

3. Modifikation

 

Inzwischen hat die Regierungskoalition auf die vielfältige Kritik reagiert und sich auf einen Tarif geeinigt, nach dem die Freistellung des Existenzminimums von der Einkommensteuer wiederum - wie gewohnt - über einen integrierten Grundfreibetrag und nicht mehr über eine außertarifliche Entlastung erfolgen soll. Die Progression soll weniger stark ansteigen als nach den ursprünglichen Plänen, dafür liegt der Eingangssteuersatz mit 25,9 Prozent deutlich über den bisher geltenden 19 Prozent. Der linear-progressive Tarifverlauf soll aufgegeben werden, der Tarif bekommt einen "Knick": Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 55.700 DM - bei Verheirateten: 111.400 DM - mündet der neue Tarif in den derzeit gültigen. Bei den darüber liegenden Einkommen sollen die Grenzsteuersätze dieselben bleiben wie bisher, auf die ursprünglich geplante leichte Absenkung der Sätze über den gesamten Tarifverlauf wird verzichtet. 

 

Der entscheidende Vorzug dieses Reformmodells ist, daß es dem zentralen Erfordernis der Anerkennung eines steuerfreien Existenzminimums für alle Steuerpflichtigen Rechnung trägt. Der hierfür im Vergleich zu den vorherigen Plänen gezahlte Preis eines höheren Eingangssteuersatzes und einer Nichtabsenkung der Grenzsteuersätze, soweit zu versteuernde Jahreseinkommen 55.700/111.400 DM übersteigen, ist verfassungsrechtlich im Grundsatz nicht zu beanstanden.

 

Nach wie vor wird das Existenzminimum mit 12.000 DM - bei Verheirateten: 24.000 DM - angesetzt. Die Einkommensteuer-Kommission hatte empfohlen, 13.000 DM bzw. 26.000 DM von der Besteuerung freizustellen, um einen gewissen Abstand von dem für 1994 ermittelten sozialhilferechtlichen Existenzminimum zu wahren und den Freistellungsbetrag für einige Jahre beibehalten zu können, ohne daß das sozialhilferechtliche Existenzminimum unterschritten werde. Auch sonst wird vielfach ein steuerrechtlicher Freistellungsbetrag von wenigstens 13.000/26.000 DM gefordert. Akzeptiert man die Prämisse, daß aus Gründen des Grundrechtsschutzes der steuerpflichtigen Einkommensbezieher das steuerliche Existenzminimum deutlich über dem sozialrechtlichen liegen muß, darf der Freistellungsbetrag diese Höhe sicherlich nicht unterschreiten.

 

 

 

IV.       Existenzsicherung von Kindern

 

1.         Vorrang der steuerlichen Verschonung des existentiellen          Bedarfs

 

Auch die Einkommensteile, die zur Existenzsicherung von Kindern zwangsläufig aufzuwenden sind, sind für die Steuerzahlung nicht disponibel und daher ebenfalls von der Bemessungsgrundlage auszusondern. Auch diesen Aufwendungen kann sich der Steuerpflichtige nicht entziehen. Daher ist ein Steuerpflichtiger mit Kindern unter ansonsten vergleichbaren Verhältnissen weniger leistungsfähig als ein Steuerpflichtiger ohne Kinder. Hätten bei gleichem Ausgangseinkommen der unterhaltspflichtige und der nicht unterhaltspflichtige Verdiener die gleiche Steuerlast zu tragen, würde dies notwendigerweise zu einer Verletzung der horizontalen Steuergerechtigkeit (Art. 3 Abs. 1 GG) führen. Alldies gilt auch für den Einkommensmillionär: Auch er verwendet für den Unterhalt seiner Kinder Einkommen, das für die Steuerzahlung nicht mehr zur Verfügung steht. Auch er ist, wenn er Kinder hat, weniger leistungsfähig als ein Einkommensmillionär ohne Kinder. Eine systemgerechte Lösung ist es, Unterhaltsaufwendungen für Kinder in Form von Freibeträgen bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens in Abzug zu bringen. Mit den in § 32 EStG geregelten Kinderfreibeträgen wird hier vom Ansatz her der richtige Weg eingeschlagen. Allerdings sind die bisherigen Kinderfreibeträge mit 4.104 DM pro Kind zu niedrig bemessen, um die tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen in realistischer Höhe steuerfrei zu stellen. Nach Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts ist der Kinderfreibetrag um etwa 1.800 DM zu niedrig, so daß das zu versteuernde Einkommen entsprechend überhöht festgesetzt wird. Die daraus resultierende Überbesteuerung wird durch das Kindergeld keineswegs in allen Fällen ausgeglichen. 

 

Es fragt sich, ob dieser Mangel durch eine Erhöhung des Kindergeldes beseitigt werden kann. Es gibt ja, wie eingangs geschildert, genügend Stimmen, die für eine solche Kindergeldlösung plädieren. Dabei scheint es, als könnten sich diese Stimmen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 berufen, nach der das Kindergeld die Aufgabe hat, die steuerliche Mehrbelastung der Familien auszugleichen, solange der Kinderfreibetrag niedriger festgesetzt ist als das Existenzminimum des Kindes. Bei näherem Zusehen erscheint die These der Wahlfreiheit des Gesetzgebers zwischen steuerlicher Verschonung des Existenzminimums und Gewährung von Kindergeld verfassungsrechtlich unhaltbar. Auch das Bundesverfassungsgericht bleibt zu sehr dem traditionellen Dualismus von Kinderfreibetrag und Kindergeld verhaftet und wagt nicht, seinen eigenen Prämissen treu zu bleiben: Die Sozialpflichtigkeit des Erworbenen, die eine Besteuerung rechtfertigt, beginnt überhaupt erst jenseits des Existenzminimums. Ein steuerlicher Eingriff in das Existenzminimum kann aus verfassungsrechtlichen Gründen auch nicht durch die kompensatorische Gewährleistung von Sozialleistungen wie Kindergeldzahlungen aufgefangen und so gerechtfertigt werden. Es ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes, insbesondere dem fundamentalen Bekenntnis zur Menschenwürde, schlechterdings unvereinbar, wenn dem Bürger die selbst erworbenen Mittel, mit denen er den notwendigen Lebensunterhalt seiner Familie aus eigener Kraft finanzieren kann und will, durch Besteuerung entzogen werden und man ihn insoweit auf staatliche Sozialleistungen verweist, die das durch die Besteuerung Entzogene wieder ausgleichen.

 

Aus dem grundlegenden Prinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) sowie dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) ergibt sich notwendig ein verfassungsrechtlicher Vorrang des eigenverantwortlichen Erwerbs vor staatsvermittelter Subsistenz. Der einzelne Bürger hat das Recht - und zugleich gegenüber der Allgemeinheit die Pflicht - , sich und seine Familie mit eigenen Kräften selbst zu unterhalten, bevor er soziale Hilfen der Allgemeinheit in Anspruch nimmt bzw. auf sie verwiesen werden kann. Das im Bereich der Sozialhilfe geltende Subsidiaritätsprinzip geht demnach auf fundamentale verfassungsrechtliche Wertentscheidungen zurück. Oder, wie Klaus Tipke resümiert: Es ist nicht verfassungskonform, Familien mit Kindern zunächst so zu besteuern, als hätten sie keine Kinder, um ihnen nachher als Sozialleistung Kindergeld zu gewähren. Die Anhebung des steuerlichen Kinderfreibetrages auf die tatsächliche Höhe des Existenzminimums hat daher gegenüber einer Erhöhung des Kindergeldes nicht nur steuersystematisch, sondern auch kraft des Gebots verfassungsgemäßer Besteuerung unbedingten Vorrang. Nur durch die realitätsgerechte Anhebung des Freibetrags wird die kindbedingte Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit in vollem Umfang bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage berücksichtigt und das zu versteuernde Einkommen richtig bestimmt. Der Politik muß diese Sicht Schwierigkeiten bereiten. Sie verliert die Möglichkeit, den steuerlichen Kinderfreibetrag als familienpolitische Transferleistung darzustellen. Nicht einmal als Maßnahme des Familienleistungsausgleichs läßt sich der Freibetrag ausgeben - wenn man diesen dadurch gekennzeichnet sähe, daß der Staat etwas aus Eigenem aufwendet, um Leistungen der Familie für Staat und Gesellschaft abzugelten. In Wahrheit ist die Politik aber besser als ihr Ruf, ist doch in den letzten Jahren der Kinderfreibetrag Schritt für Schritt erhöht worden. 

 

Bei einem realitätsgerechten Kinderfreibetrag, für den 6.000 DM als Untergrenze, aber auch 7.000 DM und mehr genannt werden, könnte das Kindergeld auf seine sozialpolitische Funktion beschränkt, d. h. als Transferleistung auf Bezieher niedrigerer Einkommen beschränkt werden, bei denen der Steuerfreibetrag keine nennenswerte Entlastungswirkung zeigt. Umgekehrt: Bei wachsendem Einkommen und steigender Entlastung durch den Kinderfreibetrag würde das Kindergeld sich entsprechend vermindern und schließlich entfallen. Ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis von Kinderfreibetrag und Kindergeld würde im übrigen zur Reduzierung der zu hohen Staatsquote beitragen. Vorrangig ist allerdings zu fragen, ob es überhaupt zulässig ist, das Existenzminimum von Kindern bei der Besteuerung mit einem einheitlichen Betrag zu berücksichtigen. Richtigerweise dürfte der Kinderfreibetrag unbeschadet einer zulässigen Pauschalierung nicht unter der unterhaltsrechtlichen Mindestbelastung der Eltern (§§ 1601, 1602 ff., 1610 BGB; §§ 1615a-1615g BGB) liegen, soll der verfassungsrechtlich relevanten Minderung der Leistungsfähigkeit Rechnung getragen und eine Überbesteuerung der unterhaltspflichtigen Eltern vermieden werden.

 

 

2.         Wahlrecht des Pflichtigen zwischen Kinderfreibetrag und          Kindergeld?

 

Der Kompromiß zur Neuregelung des "Familienlastenausgleichs", auf den sich die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP kürzlich geeinigt haben, hat auf den ersten Blick einiges für sich. Danach soll ab 1996 ein Wahlrecht zwischen der Inanspruchnahme des steuerlichen Kinderfreibetrags und der Inanspruchnahme von Kindergeld - sog. Optionsmodell - eingeführt werden. Dabei soll der Freibetrag von derzeit 4.104 DM pro Jahr auf das als verfassungsrechtlich geboten angesehene Kinderexistenzminimum von 6.264 DM angehoben werden. Das Kindergeld soll für das erste und zweite Kind auf je 200 DM pro Monat, ab dem dritten Kind auf je 300 DM steigen. Neuerdings wird sogar an eine Erhöhung des Kindergels für das vierte und weitere Kinder auf 350 DM gedacht. Mit diesem Optionsmodell scheint die Quadratur des Zirkels gelungen: Mit der Möglichkeit, sich für die Inanspruchnahme des steuerlichen Kinderfreibetrags zu entscheiden, scheint den Anforderungen des Prinzips der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Genüge getan zu sein. Auf der anderen Seite werden die Befürworter eines einkommensunabhängig gewährten Kindergelds weitgehend zufriedengestellt.

 

Doch stellen sich bald verfassungsrechtliche Zweifel ein. Gilt die aus den Freiheitsgrundrechten und dem Prinzip der Menschenwürde abgeleitete Erkenntnis, daß ein steuerlicher Eingriff in das Existenzminimum durch die kompensatorische Gewährung von staatlichen Sozialleistungen nicht gerechtfertigt werden kann, gilt weiter die Feststellung, daß bei gleichem Ausgangseinkommen die gleiche Besteuerung unterhaltspflichtiger und nicht unterhaltspflichtiger Verdiener selbst bei einem Ausgleich der wirtschaftlichen Belastung durch Sozialleistungen notwendigerweise eine Verletzung der horizontalen Steuergerechtigkeit bedeutet, einfach und allein schon deshalb nicht mehr, weil der Steuerpflichtige darauf verzichtet, sich auf seine Grundrechte zu berufen? Kann dies so sein, auch wenn der Verzicht ausschließlich durch das Angebot einer staatlichen Transferleistung motiviert ist, die kaum auszuschlagen ist, weil die angebotene Leistung die Steuerentlastung übersteigt, die sich bei einer steuerlichen Verschonung des Existenzminimums des unterhaltsberechtigten Kindes ergeben würde? Immerhin entzieht der Staat auch in diesem Fall dem Steuerpflichtigen die Mittel für die Unterstützung des unterhaltsbedürftigen Familienmitglieds, um die Unterstützung des Bedürftigen selbst zu übernehmen. Rechtfertigen könnte man das Optionsmodell allenfalls durch den Rekurs auf den Grundsatz "volenti non fit iniuria" bzw. die Überlegung, daß der Steuerpflichtige auf seinen Grundrechtsschutz verzichten könne. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß die Zulässigkeit und die Grenzen eines Grundrechtsverzichts keineswegs als geklärt gelten können. Der Rechtfertigungswirkung eines Verzichts könnte entgegenstehen, daß der verfassungsrechtliche Vorrang des eigenverantwortlichen Erwerbs vor staatsvermittelter Subsistenz letztlich im Prinzip der Menschenwürde wurzelt; zudem muß ein Grundrechtsverzicht jederzeit widerrufbar sein. Die Bedenken verstärken sich, wenn man in Rechnung stellt, daß nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums ca. 95 Prozent der Eltern sich bei der Entscheidung für das Kindergeld besser stehen werden als bei der Inanspruchnahme des Steuerfreibetrags. Außer für Spitzenverdiener, d. h. auf breitester Front, wird also per Besteuerung soziale Bedürftigkeit herbeigeführt und der Primat der Selbstverantwortung ausgehöhlt werden. Im übrigen gilt: Wenn man davon ausgeht, daß bei Steuerpflichtigen mit dem Grenzsteuersatz von etwa 40 Prozent das vorgesehene Kindergeld (für das erste und zweite Kind) der Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrags entspricht, hat das Kindergeld nur für die schmale Gruppe von Pflichtigen mit diesem Grenzsteuersatz die alleinige Funktion einer Kompensation für die Nichtentlastung durch den (nicht in Anspruch genommenen) steuerlichen Kinderfreibetrag. Für alle Steuerpflichtigen jedoch, die mit einem niedrigeren Grenzsteuersatz besteuert werden,
d. h. für knapp 95 Prozent der Steuerpflichtigen, hat das
- einheitliche - Kindergeld die mit wachsendem Einkommen abnehmende Funktion einer staatlichen Sozial- oder echten Familienförderungsleistung. Ist wirklich garantiert, daß innerhalb dieses Großteils der Steuerpflichtigen eine bedarfsgerechte oder dem Förderungsziel entsprechende Differenzierung nach sozialpolitischen oder familienpolitischen Kriterien erfolgt, wie sie der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt? Welches wäre das familienpolitische Förderungsziel, und träfe es auch bei Steuerpflichtigen mit dem Grenzsteuersatz von 40 Prozent zu? Wenn der Gesetzgeber sich diesen Fragen nicht stellen wollte, sondern sich im wesentlichen dem Ziel verpflichtet sähe, de facto auf breitester Front einheitliche Kindergeldleistungen nach dem Motto, "jedes Kind" müsse "dem Staat gleich viel wert sein", einzuführen, würde er mit dem Gleichheitssatz in Kollision geraten. Mit der Nichtberücksichtigung der auf Grund der Einkommensteuerprogression höchst unterschiedlichen Lage der Leistungsempfänger würde er gegen das im Gleichheitssatz enthaltene Differenzierungsgebot verstoßen.

 

 

V. Ehegattensplitting

 

Das Splittingverfahren bei der Besteuerung von Ehegatten (§§ 26 b, 32 a Abs. 5 EStG) ist aus doppeltem Grunde zu thematisieren: zum einen, weil heute vielfach an seiner Berechtigung überhaupt gezweifelt wird, zum anderen, weil man seinen Abbau jedenfalls zur Finanzierung der anderen familienpolitischen Maßnahmen fordert.

Bekanntlich führt das Splittingverfahren im Vergleich zur getrennten Veranlagung in vielen Fällen zu einem anderen Besteuerungsergebnis. Besonders deutlich ist der Unterschied bei Alleinverdienerehen, in denen ein Ehegatte das Gesamteinkommen erzielt. Bei getrennter Veranlagung würde das Einkommen des Alleinverdieners auf Grund des progressiven Tarifs einem höheren Steuersatz unterworfen, als dies beim Splitting der Fall ist, bei dem sich der Steuersatz gemäß dem hälftigen Gesamteinkommen aus dem Einkommensteuertarif ergibt. Dieser Splittingeffekt wird oft als Steuervergünstigung eingestuft, durch deren Abbau man ein erhebliches Finanzierungspotential erschließen zu können glaubt. Entsprechend motivierte Bestrebungen zur Abschaffung oder jedenfalls Verringerung des Splittings gibt es sowohl in der SPD als auch in Teilen der CDU. Dazu ist zunächst festzustellen, daß die Steuermehreinnahmen, die man durch den Abbau des Splittings erzielen zu können glaubt, meist weist überschätzt werden. Vor allem wird aber übersehen, daß das Ehegatten-Splitting tatsächlich keine Steuervergünstigung darstellt, sondern - sowohl für Ehepaare mit wie für solche ohne Kinder - ein sachgerechtes Besteuerungsverfahren gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip.

 

Das Splittingverfahren trägt den Gegebenheiten, die in Ehen heutzutage typischerweise vorherrschen, in angemessener Weise Rechnung. Die Ehe ist zu begreifen als eine Lebens-, Erwerbs- und Wirtschaftsgemeinschaft gleichberechtigter Partner, zu der die Ehegatten sich arbeitsteilend zusammenschließen und in der sie das oder die Einkommen in einen gemeinsamen Topf fließen lassen und in gleichrangiger Weise am Gesamteinkommen teilhaben. Dieses Ehebild steht auch in Einklang mit den Grundwertungen des Familienrechts. Die Institute des Zugewinnausgleichs, des Versorgungsausgleichs und z. B. der gegenseitigen Verpflichtungsbefugnis (§ 1357 BGB) - sprich Schlüsselgewalt - lassen den Grundsatz erkennen, daß das während der Ehe Erwirtschaftete gemeinschaftlich erwirtschaftet ist. Bei diesem Ehetypus der Erwerbs- und Wirtschaftsgemeinschaft mit gleichrangiger Teilhabe am Einkommen wird die Leistungsfähigkeit der Ehegatten jeweils durch die Hälfte des ehelichen Gesamteinkommens repräsentiert. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlangt dann ein Verfahren der Ehegattenbesteuerung, das dieser Einkommenszusammenlegung und -aufteilung Rechnung trägt. Das geltende Ehegattensplitting stellt ein entsprechendes Verfahren dar.

 

Wenn es aber so ist, daß das Ehegattensplitting für typische Eheverhältnisse ein am Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG orientiertes, angemessenes Besteuerungsverfahren gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist, dann sind die sich hieraus ergebenden Besteuerungsergebnisse keine Steuervergünstigungen, die beliebig zur Disposition gestellt werden könnten. Von daher ist der Forderung, den Splittingeffekt bei Beziehern höherer Einkommen zu kappen, eine entschiedene Absage zu erteilen. Wer den Splittingvorteil kappt, besteuert viele Ehepaare mit einem Verdiener deutlich höher als Ehepaare und nichteheliche Gemeinschaften mit zwei Verdienern und vergleichbaren Gesamteinkommen. Auch eine Verringerung des Splittingdivisors läßt sich nicht überzeugend begründen. In diesem Sinne hat auch der 57. Deutsche Juristentag nachdrücklich dafür plädiert, das Ehegattensplitting "uneingeschränkt beizubehalten". Es stelle "keine Steuervergünstigung" dar, sondern beruhe "auf der verfassungsrechtlichen Vorzugsstellung der Ehe auch als Erwerbsgemeinschaft vor sonstigen Formen des gemeinsamen Lebens" und entspreche "der zivilrechtlichen Ordnung der überwiegenden Mehrzahl der Eheverhältnisse (Zugewinnausgleich, Versorgungsausgleich)".

 

Wenn es so wäre, daß die jüngsten Vorschläge zur Kappung des Ehegattensplittings lediglich einer Mischung aus fiskalischem Denken und steuersystematischen Verständnisdefiziten entspränge, wäre dies kaum besorgniserregend. Solche Verständnisdefizite ließen sich früher oder später beheben. In Wahrheit liegen die Dinge aber wohl anders. Wenn man die genannten Vorschläge im Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschafts- und familienpolitischen Grundüberzeugungen betrachtet, denen einige ihrer Urheber anhängen, so zeigt sich, daß die Splittingdiskussion über das Steuerrecht weit hinausweist. Mit der Infragestellung des Ehegattensplittings wird weniger der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als solcher in Zweifel gezogen als vielmehr seine Prämissen im diskutierten Kontext. In Zweifel gezogen wird die Grundannahme, von der sich der Gesetzgeber bei der Einführung des Splittings im Jahre 1958 leiten ließ, nämlich die Überzeugung, daß die Ehe auf Grund ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihrer grundgesetzlich verankerten besonderen Schutzwürdigkeit auch steuerlich als einheitliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft anzusehen sei.

 

Was das Bundesverfassungsgericht noch im Jahre 1982 als "wirtschaftliche Realität der intakten Durchschnittsehe" angesehen hat, nämlich die autonome, arbeitsteilige Aufteilung von Erwerbs- und anderen Funktionen innerhalb der ehelichen Gemeinschaft, ist dreizehn Jahre später anscheinend in weiten Kreisen in Mißkredit geraten. Daß es, ungeachtet zunehmender Versuche gesellschaftlicher Herabqualifizierung durch die Verfechter einer höchst einseitig verstandenen Emanzipation, auch 1995 weiterhin Frauen gibt, die sich die Freiheit nehmen, im Rahmen familiärer Aufgabenteilung vorwiegend andere Funktionen als diejenige des Broterwerbs wahrzunehmen, wird zunehmend als gesellschaftliche Realität minderen Ranges abgetan - getreu der Devise von Morgensterns "Palmström": "... daß nicht sein kann, was nicht sein darf". So ist es nur konsequent, ein derartiges der Erfüllung des "frauenpolitischen Plansolls" im Wege stehendes Verhalten nun auch steuerlich zu "bestrafen". Nichts anderes wäre nämlich das Ergebnis der genannten Vorschläge, die ja die Kosten des angestrebten sog. "Familienlastenausgleichs" vorwiegend denjenigen Ehepaaren aufbürden wollen, bei denen ein Ehegatte bisher dank der Entlastung von anderen Aufgaben durch einen nicht oder nicht voll erwerbstätigen Ehepartner ein überdurchschnittliches Einkommen erzielt. Unbeeinträchtigt durch einen Abbau des Splittings bleiben dagegen diejenigen Ehepaare und Familien, die sich - häufig unter Forderung nach Schaffung zusätzlicher Kindergartenplätze durch die Gesamtheit der Steuerzahler - für eine Berufstätigkeit beider Eheleute entscheiden, jedenfalls soweit beruflicher Arbeitseinsatz und damit Einkommen beider Eheleute annähernd gleich sind. Wenn man die ständigen Versuche der politischen Parteien betrachtet, das Steuerrecht in nahezu allen denkbaren Bereichen als Instrument gesellschaftspolitischer Verhaltenssteuerung zu gebrauchen und zu mißbrauchen, fällt es schwer, ausgerechnet hier an Zufall zu glauben.

 

Wem an der Sicherung der verfassungsrechtlich verbürgten familiären Entscheidungsfreiheit über die Art und Weise der innerfamiliären Arbeitsteilung gelegen ist, wem mithin an der Wahrung der Gleichwertigkeit der jeweiligen Leistung - Berufstätigkeit einerseits und Haushaltsführung einschließlich Kindererziehung andererseits - liegt, tut gut daran, die Vorschläge zum Abbau des Ehegattensplittings nicht als fiskalisch motivierte steuerpolitische "Verirrungen" des Augenblicks abzutun, sondern sie als sorgsam bedachte, aber grundgesetzlich fragwürdige Eingriffe in die Autonomie von Ehe und Familie zurückzuweisen. Als Ergebnis ist somit festzuhalten: Durch das Splittingverfahren wird sichergestellt, daß die Bemessungsgrundlage in sachgerechter Weise auf die Ehegatten aufgeteilt wird und damit auch der Tarif seine Belastungsfunktion für jeden einzelnen Ehegatten und für die Ehegemeinschaft insgesamt erfüllen kann. Als Finanzreserve der Familienpolitik ist das Ehegattensplitting schlechterdings nicht geeignet. 

 

Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, in welcher Höhe das Existenzminimum der Ehegatten bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen ist. Insofern wird darauf hingewiesen, daß es bei zusammenlebenden Ehegatten zur sog. Haushaltsersparnis komme, weil die Kosten zusammenlebender Personen, pro Person gerechnet, geringer seien als die Alleinstehender. Dies könnte dafür sprechen, Ehepaaren nicht zwei volle Grundfreibeträge einzuräumen, sondern den zweiten Grundfreibetrag niedriger anzusetzen.

 

Das Argument der Haushaltsersparnis ist als solches nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Auch der Bundesfinanzminister findet offenbar, wie berichtet, an ihm Geschmack. Trotzdem sind gegen die Reduzierung des zweiten Grundfreibetrages schwerwiegende Vorbehalte anzumelden. Zunächst ist einzuwenden, daß es zur Haushaltsersparnis auch bei Personen kommt, die in nicht-ehelicher (Haushalts-)Gemeinschaft zusammenleben. In solchen Fällen kommt aber nur die getrennte Veranlagung in Betracht. Daher dürfte es kaum praktikable Möglichkeiten geben, auch in diesen Fällen die Haushaltsersparnis durch reduzierte Grundfreibeträge zu berücksichtigen. Ähnliches gilt für Ehepaare, bei denen beide ein etwa gleich hohes Einkommen beziehen. In solchen Fällen kommt es durch das Splittingverfahren ja nicht zu einer Verminderung der Steuerbelastung. Deshalb können sich diese Ehepaare ohne weiteres für die getrennte Veranlagung entscheiden und sich so ebenfalls die doppelten Grundfreibeträge sichern. Daher ergäbe sich eine verfassungsrechtlich bedenkliche, mit Art. 3 Abs. 1 GG schwerlich zu vereinbarende Benachteiligung zusammenveranlagter Ehegatten, wenn die Haushaltsersparnis nur bei ihnen durch reduzierte Grundfreibeträge berücksichtigt würde. In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, daß das Bundesverfassungsgericht schon im Jahre 1957 seine Ablehnung gegen eine steuerliche Berücksichtigung von Haushaltsersparnissen deutlich gemacht hat. Es hat damals erklärt, daß die Möglichkeit von Einsparungen in der Lebenshaltung im gesamten übrigen Einkommensteuerrecht als Faktor der Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt werde; dieser Gesichtspunkt sei also systemfremd.

 

Aus den dargelegten Gründen sollte im Interesse einer gerechten Besteuerung gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip das Ehegattensplitting ohne Abstriche beibehalten und Ehegatten
- wie bisher - ein doppelter Grundfreibetrag gewährt werden.

 

 

 

VI. Familiensplitting

 

Auf ungesichertes Terrain begibt man sich, wenn man über Konzepte eines "Familiensplittings" nachdenkt, obwohl dieses als Idee nicht neu ist. Im politischen Raum finden sich bis in die jüngste Zeit wiederholt Bekenntnisse hierzu. Die Verwirklichung eines "Familiensplittings" würde aber eine Neuorientierung der Familienbesteuerung bedeuten. Zunächst soll das tarifliche Familiensplitting, sodann das Familienrealsplitting skizziert werden. 

 

Bei einem tariflichen Familiensplitting würden die Familienmitglieder in der Weise zusammenveranlagt, daß entsprechend der Technik des Ehegattensplittings das Gesamteinkommen der Familie auf die einzelnen Familienmitglieder aufgeteilt würde. Dann würde es dem Tarif unterworfen, mit der Folge, daß eine mit der Anzahl der Familienmitglieder (und damit der Höhe des Splittingdivisors) steigende Abmilderung der Progression stattfände. Problematisch ist die Bestimmung der Splittingdivisoren, die die Höhe der fiktiven Zurechnung an die Eltern und die Kinder festlegen. Nur ein Vollsplitting, also ein Splittingdivisor von eins für jedes Familienmitglied und damit die Zurechnung eines gleich hohen Bruchteils des Familieneinkommens an jedes Familienmitglied, vermeidet bei jeder denkbaren tatsächlichen Einkommensverteilung eine Benachteiligung der zusammenveranlagten Familie. Wenn andere Splittingdivisoren, insbesondere geringere für die Kinder, gewählt werden, muß die Möglichkeit einer getrennten Veranlagung (auf Antrag) offenstehen, um eine Kollision mit Art. 6 Abs. 1 GG zu vermeiden. Der Vorschlag eines Familienrealsplittings hält demgegenüber an der Individualbesteuerung der einzelnen Familienmitglieder fest. Er überträgt die Grundsätze der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 22 Nr. 1 a EStG für die Besteuerung des Unterhalts an den geschiedenen Ehegatten auf die Unterhaltsverpflichtungen in der intakten Ehe und Familie. Der Unterhaltsverpflichtete soll danach die Unterhaltszahlungen bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens abziehen, während der Unterhaltsberechtigte sie zu versteuern hat. Der Höhe nach soll eine Orientierung an den zivilrechtlichen Unterhaltspflichten stattfinden und die grundsätzlich hälftige Zurechnung bei Ehegatten beibehalten werden.

 

Vergleicht man diese beiden Lösungen miteinander, so ist hinsichtlich des tariflichen Familienvollsplittings festzustellen, daß es sich ein gutes Stück von den zivilrechtlichen Regelungen und der wirtschaftlichen Realität lösen würde. Es würde die Kinder den Ehegatten gleichstellen, obwohl die Familie zwar wie die Ehe Erlebnis-, Entfaltungs-, Verantwortlichkeits- und auch Unterhaltsgemeinschaft ist, aber eben keine Wirtschaftsgemeinschaft im Sinne einer Erwerbsgemeinschaft. Die Kinder haben nur einen Anspruch auf angemessenen Unterhalt, bilden aber mit den Eltern keinen Erwerbsverbund. Ab einer gewissen Höhe wäre die Zurechnung von Einkommen zu den Kindern nicht mehr wirtschaftlich gerechtfertigt und damit keine Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips mehr, sondern eine reine Förderungsmaßnahme des Staates. Diese kann nicht uneingeschränkt zulässig sein, da eine Familie mit hohem Einkommen einen höheren Vorteil durch ein derartiges tarifliches Familiensplitting hätte als eine Familie mit geringerem Einkommen. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat aus diesem Grunde bereits im Jahre 1967 eine Verringerung der Splittingdivisoren für Kinder ab einer Einkommensgrenze vorgeschlagen.

 

Diese Schwierigkeiten würde das Familienrealsplitting vermeiden, das die steuerrechtliche Behandlung der Familie von vornherein an der zivilrechtlichen Regelung der Unterhaltsverpflichtungen orientiert. Da mit dem Einkommen und dem Status der Eltern die zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen steigen, würde mit wachsendem Einkommen die steuerliche Abzugsfähigkeit von Unterhaltszahlungen steigen. Damit würden allerdings nicht den sog. Besserverdienenden "Steuervorteile zugeschanzt", sondern es würde der Minderung der Leistungsfähigkeit der Eltern durch die unterschiedlichen unterhaltsrechtlichen Belastungen adäquat Rechnung getragen. Fraglich ist nur, ob ein solches Modell der Familienbesteuerung, bei dem sich das Maß der steuerlichen Entlastung letztlich nach dem sozialen Status der Familie bestimmen würde, politisch konsensfähig wäre - trotz Systemkonsequenz, die dieses Modell auszeichnet. Begrenzt man aber zum Zwecke besserer Akzeptanz das Realsplitting durch Höchstbeträge oder setzt man einheitliche Abzugsbeträge beim Unterhaltsverpflichteten an, so ist man nicht mehr weit vom System realitätsgerecht bemessener Kinderfreibeträge entfernt.

 

Gegenüber einer Beibehaltung des jetzigen Systems der Familienbesteuerung in verbesserter Form ist schon deshalb für die Umstellung auf ein Familienrealsplitting zu plädieren, weil es die Realität der Einkommensumverteilung innerhalb der Familie am leichtesten und am genauesten im Einkommensteuerrecht abzubilden vermag. Darüber hinaus spricht für eine solche Umstellung, daß unter dem heutigen System Steuerpflichtige mit frei verfügbarem Einkommen - aber eben nur diese - bereits jetzt schon durch die Übertragung von Einkunftsquellen auf die Kinder die Wirkung eines Familiensplittings erreichen können. Konkret: Wer Vermögen besitzt oder ein Gewerbe betreibt, kann sich durch vertragliche und legale Aufteilung seines Gesamteinkommens faktisch den Splittingeffekt verschaffen. Der Konflikt mit dem Gleichheitssatz liegt auf der Hand. Denn das Postulat gleicher steuerlicher Behandlung gilt natürlich auch im Vergleich zwischen Familien mit geringem und solchen mit großem Kapitalvermögen und zwischen Familien mit einer in Kapitalwerten erfaßten und deshalb übertragbaren Erwerbsgrundlage und solchen mit einer in der eigenen Arbeitskraft angelegten und deshalb nicht übertragbaren Erwerbsgrundlage. Die mit der übertragbaren Erwerbsgrundlage eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten legen es nahe, die Teilhabe von Kindern am elterlichen Einkommen im Rahmen von Unterhaltspflichtverhältnissen generell durch ein eingeschränktes Familiensplitting, wie es das Familienrealsplitting darstellt, zu berücksichtigen. Die verfassungsrechtlichen Impulse, die in diese Richtung weisen, sind unübersehbar.