Professor Dr. Rudolf Wendt

 

 

Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise

- Vortragsfassung -

 

In meinem Vortrag möchte ich mich mit der Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise beschäftigen. Dabei bitte ich um Verständnis dafür, daß ich nur die Grundlinien der heute geführten Diskussion nachzeichnen kann. Es würde mich aber freuen, wenn ich trotz dieser Beschränkung ein wenig zur Versachlichung der Debatte beitragen könnte, die immer heftiger geführt wird und nicht selten beinahe die Züge eines Glaubenskriegs annimmt - bis in die Gerichtsurteile hinein, die sich mit der Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise beschäftigen.

 

Erstaunlich ist es im übrigen nicht, daß diese Debatte so erbittert geführt wird. Denn es geht bei dem Thema - anders, als es zunächst scheinen könnte - nicht um bloße technische Fragen, nicht um Randfragen der Aufgabenerfüllung der Kreise, die im übrigen außer Diskussion stünde. Wie ich in dieser Runde eigentlich nicht näher zu betonen brauche, geht es vielmehr um die Grundfrage der Stellung der Kreise in unserer hochdifferenzierten Staats- und Verwaltungsordnung überhaupt, um den legitimen Platz der Kreise in diesem Gefüge und den adäquaten Zuschnitt ihres Aufgabenkreises im Verhältnis zu anderen Aufgabenträgern, insbesondere im Verhältnis zu den Gemeinden. Und weil die Zuweisung von Aufgaben nicht denkbar ist ohne die Ausstattung mit angemessenen Finanzmitteln, die die Erfüllung der Aufgaben erst ermöglicht, geht es auch um Geld - bei dem bekanntlich die Gemütlichkeit aufhört. Da es sich um viel Geld handelt, gilt das um so mehr. Die Situation verschärft sich geradezu dramatisch dadurch, daß es bei unserer Frage nach den legitimen Aufgaben der Kreise und deren Finanzierung nicht nur um die sozusagen normale Konkurrenz um Aufgaben und Finanzmittel mit anderen öffentlichen Aufgabenträgern geht. Hinsichtlich der Aufgaben selbst geht es vielmehr vielleicht sogar um die sogenannte Kompetenz-Kompetenz, also um die Frage, ob sich die Kreise eigenmächtig neue Aufgaben- und Kompetenzfelder zu Lasten Dritter erschließen können, sprich: ob sie Kompetenzen, die bisher von den Gemeinden wahrgenommen worden sind, nach Belieben an sich ziehen können. Und was die Konkurrenz um die knappe Ressource Finanzen angeht, so entscheidet über den Zugriff auf diese Ressource nicht ein neutraler Dritter, sondern der Kreis selbst. In bezug auf alle Aufgaben, die er rechtmäßigerweise wahrnimmt, kann sich der Kreis über sein genuines Finanzierungsinstrument, die Kreisumlage, aus eigener Kraft, nach eigener Entscheidung refinanzieren - und zwar gerade bei denjenigen, mit denen er um die Aufgabenerfüllung konkurriert, nämlich bei den Gemeinden.

 

Im Beziehungsgeflecht zwischen Kreisen und kreisangehörigen Gemeinden ist also genügend Sprengstoff angehäuft. Innerhalb der vielbeschworenen kommunalen Familie droht die Solidarität verloren zu gehen, man streitet um Sachkompetenzen, Finanzierungskompetenzen und natürlich um die Finanzmittel selbst. Wenn sich Dritte in diesen Streit einmischen, verbessert sich oft nichts: So hat kürzlich die Industrie- und Handelskammer des Saarlandes schlicht vorgeschlagen, die Kreise aufzulösen und die Kreisaufgaben auf die Städte und Gemeinden zu verteilen - das in einem Bundesland, in dem es ohnehin an einer staatlichen Mittelinstanz fehlt. Hier wird leichtfertig eine bewährte Organisationsstruktur in Frage gestellt und verkannt, daß nicht von ungefähr beim Aufbau der neuen Bundesländer Kreise von Anfang an eingerichtet worden sind. Daß dann auch noch übersehen wird, daß der Fortbestand der Kreisebene durch Art. 28 GG verfassungsrechtlich gewährleistet ist, paßt in das Bild.

 

Der Streit, der zwischen Kreisen und Gemeinden über die Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise geführt wird und der in Wahrheit ein Streit um Sachkompetenzen, Finanzierungskompetenzen und Finanzen zugleich ist, wird inzwischen längst vor den Gerichten ausgetragen - über nahezu alle Bundesländer hinweg. Dabei wird in den einschlägigen Gerichtsverfahren sozusagen das Pferd von hinten aufgezäumt: Die Gemeinden wenden sich nicht gegen die Wahrnehmung von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben durch den Kreis, die sie für unzulässig halten. Sie greifen vielmehr die Festsetzung der Kreisumlage mit der Begründung an, die Umlage diene zur Finanzierung von Aufgaben, für die der Kreis weder unter dem Etikett der Ergänzungs- noch unter dem Etikett der Ausgleichsaufgabe einen Kompetenztitel habe. Die Gemeinden machen also geltend, daß sie zur Finanzierung von Aufgaben, die den legitimen Funktionsbereich des Kreises überschritten, nicht herangezogen werden dürften.

 

Nun, wie immer die prozessuale Schlachtordnung aussehen mag: Im Kern geht es um die Frage, wie wir es mit der Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise halten wollen.

 

Die meisten von Ihnen werden wissen, daß zu dieser Frage hierzulande sehr dezidierte Auffassungen vertreten werden. Das Verwaltungsgericht Weimar hat in seinen Urteilen vom 13. November 1996 Kreisumlagebescheide des Kreises Nordhausen für rechtswidrig erklärt und sie gemäß den Klageanträgen teilweise aufgehoben. Zur Begründung führt das Gericht aus, daß der beklagte Kreis aus den Mitteln der Kreisumlage Aufgaben finanziert habe, für die ihm die Zuständigkeit nach der Thüringer Kommunalordnung oder anderen Gesetzen fehle. Die Ableitung einer Zuständigkeit aus einer "Ausgleichsfunktion" der Kreise lehnt das Gericht ausdrücklich ab. In Thüringen, meint es, komme den Kreisen keinerlei Ausgleichsfunktion zu.

 

Die Aufgabenkompetenz der Kreise muß nach Auffassung des Gerichts gesetzlich begründet sein. Diese Begründung könne durch Fachgesetz erfolgen, wie z. B. im Falle der Zuständigkeit der Kreise nach dem Schulgesetz, ÖPNV- Gesetz, Landesabfall- oder Sportförderungsgesetz. Die gesetzliche Begründung der Zuständigkeit der Kreise könne aber natürlich auch durch die allgemeine Regelung des § 87 Abs. 1 Thüringer Kommunalordnung erfolgen, nach der der Kreis überörtliche Aufgaben wahrzunehmen hat.

 

Das Verwaltungsgericht Weimar definiert den Begriff der Überörtlichkeit jedoch außerordentlich eng und kommt damit zu Ergebnissen, die - gelinde gesagt - überraschen und das traditionelle Bild der Kreisaufgaben von Grund auf in Frage stellen. Überörtlich ist nach Auffassung des Gerichts eine Angelegenheit nur, wenn sie

-        die Leistungsfähigkeit einzelner dem Landkreis angehörenden Gemeinden übersteigt und

-        allen Gemeinden des Kreises gleichmäßig zugute kommt.

Daß die Aufgabe die Leistungsfähigkeit einer Gemeinde übersteigt, reicht also nicht aus. Der gleichmäßige Nutzen für alle Gemeinden muß hinzukommen. Wäre das letztere nicht der Fall, würden nicht alle Gemeinden profitieren, käme es ja zu einem Ausgleichseffekt, den das Gericht ja gerade verwirft.

 

Die Ergebnisse, die aus diesem engen Verständnis der Überörtlichkeit folgen, sehen so aus:

Die Förderung der Wirtschaft und des Tourismus ist im Kreis Nordhausen keine überörtliche Aufgabe. Auch wenn die Aufgabe die Leistungsfähigkeit einzelner Gemeinden des Kreises übersteigt, so profitieren doch nicht alle Gemeinden von ihrer Wahrnehmung, da nicht alle Gemeinden des Kreises Gewerbe- und Tourismusambitionen haben - so wörtlich das Gericht.

 

Was die dem Hallenbad in Sollstedt vom Kreis Nordhausen gewährte Unterstützung angeht, so erkennt das Gericht zwar an, daß die Unterhaltung des Bads nicht mehr als örtliche Aufgabe einer Gemeinde wie Sollstedt begriffen werden kann. Da aber die Stadt Nordhausen auch ein Hallenbad betreibe, komme die Unterhaltung des Sollstedter Bads nicht allen kreisangehörigen Gemeinden zugute. Die Unterstützung durch den Kreis soll daher überörtliche Aufgabe sein.

 

Auch bei der Bezuschussung der Fahrbibliothek seitens des Kreises soll es sich nicht um eine überörtliche Aufgabe handeln, da es im Kreis Nordhausen Gemeinden mit eigenen Bibliotheken gebe.

Dagegen gibt es nur einen einzigen Theaterbetrieb im gesamten Kreis Nordhausen: das Theater der Stadt Nordhausen. Der Betrieb des Theaters kommt nach Auffassung des Gerichts wegen seiner Einmaligkeit allen Gemeinden des Kreises zugute. Mit der finanziellen Beteiligung an der Unterhaltung des Theaters nimmt der Kreis auch aus der Sicht des Gerichts eine überörtliche Aufgabe wahr. Die Mitfinanzierung wird hier daher nicht beanstandet.

 

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar bricht mit der traditionellen Sicht der Funktion der Kreise in geradezu revolutionärer Weise. Kritiker sprechen von einer Pervertierung der Kreisfunktionen. Eine massive Verkürzung der Kreisfunktionen ist offensichtlich. Dreh- und Angelpunkt der beschriebenen Sichtweise ist der Ausschluß jeder Ausgleichsfunktion der Kreise. Da fragt sich natürlich, ob ein solcher Ausschluß dem Charakter der Kreise als eines Aufgaben- und Lastenverbandes gerecht wird. Es ist also zu fragen, ob diese Sichtweise wirklich dem geltenden Recht entspricht. Vielleicht wird sie ja tatsächlich durch Besonderheiten des thüringischen Landesrechts erzwungen.

 

Schauen wir uns zunächst einmal an, wie man herkömmlicherweise die Kreisaufgaben einteilt. Traditionell unterscheidet man drei verschiedene Kategorien von Selbstverwaltungsaufgaben der Kreise:

Erstens: Die übergemeindlichen Aufgaben. Das sind solche, die sich kraft Natur der Sache einer Wahrnehmung durch die einzelnen Gemeinden entziehen und daher nur vom Kreis wahrgenommen werden können.

 

Zweitens sind zu nennen die ergänzenden Kreisaufgaben. Darunter versteht man nach der bisherigen Auffassung solche Aufgaben, die wegen mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit oder Verwaltungskraft der kreisangehörigen Gemeinden von diesen oder jedenfalls von manchen unter ihnen nicht oder nur unrationell wahrgenommen werden können. Infolgedessen nimmt der Kreis diese Aufgabe wahr. Eine solche Ergänzungsaufgabe, z. B. den Betrieb einer Musikschule, eines Alten- oder Jugendheims, kann der Kreis auch lediglich für ein Teilgebiet des Kreises wahrnehmen, während die Aufgabe im übrigen Teil des Kreisgebiets von ausreichend leistungsfähigen Gemeinden selbst wahrgenommen wird. Die Erfüllung ergänzender Aufgaben bewirkt zwangsläufig einen organisatorischen Lastenausgleich zwischen den kreisangehörigen Gemeinden. Diese lastenverteilende und ausgleichende Funktion der Kreise ist immer nahezu einhellig anerkannt worden. Mit anderen Worten: Die Forderung, im Bereich der ergänzenden Aufgaben des Kreises müsse die Aufgabenerfüllung allen Gemeinden des Kreises gleichmäßig zugute kommen, entzieht dieser Aufgabenkategorie den Boden.

 

Die dritte Kategorie von Kreisaufgaben sind die ausgleichenden Aufgaben im eigentlichen Sinne. Hier geht es um die Unterstützung einzelner Gemeinden durch den Kreis, sei es im Wege der Verwaltungshilfe oder der Finanzhilfe. Wesentlich ist, daß anders als bei der Wahrnehmung übergemeindlicher und ergänzender Aufgaben die Wahrnehmung der jeweiligen Grundaufgabe in der Zuständigkeit der einzelnen Gemeinde verbleibt. Klar ist, daß der Kreis mit den ausgleichenden Aufgaben gezielt auf einen ausgleichenden und lastenverteilenden Effekt und eine gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung hinwirkt.

 

Die Gemeinden, die nahezu bundesweit die Verwaltungsgerichte angerufen haben, sind teils der Ansicht, daß den Kreisen von Verfassungs wegen überhaupt keine Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben übertragen werden dürfen; teils gehen sie davon aus, daß Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben jedenfalls nur in einem sehr geringen Ausmaße wahrgenommen werden dürfen. Wäre diese Auffassung richtig, könnte dies für die Kreise existenzbedrohende Konsequenzen haben. Diese Auffassung könnte sich nämlich mit der Auffassung verbinden, daß auch die übergemeindlichen Aufgaben der Kreise so restriktiv wie möglich verstanden werden müßten. Denn welche Aufgaben der Natur der Sache nach nur vom Kreis wahrgenommen werden können, das ist natürlich auch interpretationsfähig. So könnte ja vielleicht auch die Unterhaltung einer Kreisstraße oder eines Naturparks ohne größere Probleme von den kreisangehörigen Gemeinden jeweils in ihrem Gebiet wahrgenommen werden, zumal eine interkommunale Zusammenarbeit der Gemeinden ja zulässig ist. Würden die Kreise aber nur noch darauf beschränkt, die ihnen vom Gesetzgeber übertragenen Pflichtaufgaben zu erfüllen, bliebe von einer "Selbstverwaltung" im eigentlichen Sinne kaum etwas übrig. Käme der Wegfall der Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben hinzu, müßte in der Tat gefragt werden, ob die Kreise überhaupt eine Daseinsberechtigung haben.

 

Ich möchte jetzt zunächst die These aufstellen und begründen, daß es verfassungsrechtlich zulässig ist, Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben durch Gesetz auf die Kreise zu übertragen.

 

Die verfassungsrechtliche Würdigung muß bei Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG ansetzen, nach dem auch die Gemeindeverbände im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung haben. Aus der Rastede-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

 

          - BVerfGE 79, 127 ff.

 

ist im Schrifttum vereinzelt und dann auf breiter Front von den Gemeinden der Schluß gezogen worden, daß der Gesetzgeber den Kreisen jedenfalls keine allgemeinen Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben zuweisen dürfe. Begründet wird das damit, daß das Bundesverfassungsgericht von einem verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsvorrang der Gemeinde ausgehe und es ausdrücklich abgelehnt habe, bei der Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft auf die Verwaltungskraft der Gemeinden abzustellen. Dieser Argumentation ist die ganz h. M. zu Recht nicht gefolgt.

 

So hat vor allem das Bundesverwaltungsgericht in jüngster Zeit mehrfach darauf hingewiesen, daß die Rastede-Entscheidung nur den Entzug von Gemeindeaufgaben durch den Gesetzgeber betrifft. Ein solcher Entzug ist aber mit der Zuweisung von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben an die Kreise gerade nicht verbunden. Das versteht sich für die Ausgleichsaufgaben von selbst. Denn die Gewährung administrativer oder finanzieller Hilfen durch den Kreis an hilfebedürftige Gemeinden ist Unterstützung fremder Aufgabenerledigung, stellt die eigene Aufgabenerledigung der unterstützten Gemeinde nicht in Frage, sondern setzt sie voraus und kommt ihr zugute. Zu einem Aufgabenentzug führen die Ausgleichsaufgaben also nicht.

 

Dasselbe gilt im Ergebnis auch für die Ergänzungsaufgaben. Hier wird der Kreis ja unter der Voraussetzung der mangelnden Leistungsfähigkeit einzelner oder aller kreisangehörigen Gemeinden selbst tätig. Die Ergänzungsaufgaben berechtigen den Kreis, zur Sicherung eines einheitlichen Leistungsniveaus auf Kreisebene in die Aufgabenwahrnehmung der nicht leistungsfähigen Gemeinden einzutreten. Da stellt sich natürlich schon die Frage, ob das nicht einen Aufgabenentzug bedeutet. Nun, die Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs ist einfach: Nur der gesetzliche Aufgabenentzug führt zu einem umfassenden Wegfall der Gemeindekompetenzen. Dagegen entsteht die Ergänzungsaufgabe von vornherein nur unter der Voraussetzung der mangelnden Leistungsfähigkeit der Gemeinden und darf grundsätzlich auch nur so lange aufrechterhalten werden, wie die Gemeinden zur Wahrnehmung nicht imstande sind.

 

Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben eröffnen dem Kreis damit keine vollen Kompetenzen an Stelle der Gemeinden, sondern nur subsidiäre Zuständigkeiten nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit der Gemeinden. Anders als beim gesetzlichen Aufgabenentzug verbleiben die zu regelnden Angelegenheiten grundsätzlich in der Zuständigkeit der Gemeinden. Dadurch wird durch Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben der verfassungsrechtliche Zuständigkeitsvorrang der Gemeinden in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft keineswegs mißachtet. Er wird vielmehr bestätigt. Es ist sogar so, daß die von manchen favorisierte Alternative zur Normierung von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben, nämlich der Aufgabenentzug durch Gesetz für alle oder für bestimmte Gemeinden zugunsten der Kreise, den verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsvorrang der Gemeinden bei Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft stärker antastet als die Ausstattung der Kreise mit Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben.

Gerade dieser letztere Punkt wird auch vom Bundesverwaltungsgericht so gesehen. Darüber hinaus weist das Gericht darauf hin, daß es auch unter der Geltung des Grundgesetzes ein legitimes Anliegen der Landesgesetzgebung ist, Aufgaben, die sonst wegen mangelnder Leistungsfähigkeit der kreisangehörigen Gemeinden unerledigt bleiben würden, nicht auf Dauer brachliegen zu lassen. Richtiger ist es, dafür zu sorgen, daß die Bürger innerhalb des Kreises und im Verhältnis zwischen Stadt und Land im wesentlichen gleichwertige Lebensbedingungen vorfinden. Angesichts des erheblichen Gefälles in der Leistungsfähigkeit kreisangehöriger Gemeinden ist das ohne Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben nicht erreichbar. Entsprechende am traditionellen Aufgabenbestand der Kreise ausgerichtete Aufgabenzuweisungsnormen sind daher grundsätzlich nicht zu beanstanden.

 

Ich glaube, daß die kreisangehörigen Gemeinden das im Grunde ihres Herzens nicht anders sehen. In Wahrheit wenden sie sich ja auch so gut wie nie gegen die Wahrnehmung der genannten Aufgaben durch die Kreise als solche. Das habe ich ja bereits eingangs hervorgehoben. Des Rätsels Lösung für diesen Befund, der einen zunächst erstaunen mochte: Die Aufgabenwahrnehmung selbst ist den Gemeinden hoch willkommen, weil ihnen dadurch Leistungen zufließen, die sie selbst nicht aus eigener Kraft oder nicht in gleicher Intensität erbringen könnten. Nicht einverstanden sind die Gemeinden nur damit, daß sie zur Finanzierung der Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben herangezogen werden. Das ist aber eine eigene Frage.

 

Wenn Sie mir bis zu diesem Punkt gefolgt sind, dann sind wir uns also einig darin, daß es verfassungsrechtlich zulässig ist, Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben auf die Kreise zu übertragen. Damit sind wir schon einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Die weiteren Fragen sind dann,

-        erstens, ob die entsprechende Aufgabenübertragung durch eine Generalklausel erfolgen kann, und

-        zweitens, welchen Inhalt eine solche generalklauselartige Zuweisung haben muß, damit man tatsächlich eine solche Zuweisung annehmen kann.

 

Zur ersten Frage: Alle Kreisordnungen, auch die Thüringer Kommunalordnung, haben den Kreisen Selbstverwaltungsaufgaben in Form einer Generalklausel zugewiesen. Bedenken hiergegen hat das Bundesverwaltungsgericht ohne jedes Wenn und Aber zurückgewiesen. Entscheidend ist, daß den Kreisen Zuständigkeiten nur bei fehlender Leistungsfähigkeit übertragen werden sollen. In Rechnung zu stellen ist ferner, daß sowohl die Leistungsfähigkeit der kreisangehörigen Gemeinden als auch diejenige der Kreise von Umständen abhängt, die von Kreis zu Kreis und innerhalb der einzelnen Kreise sehr unterschiedlich sein können. Zur sinnvollen und wirksamen Wahrnehmung seiner Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion muß ein Kreis daher selbst darüber entscheiden können, ob und inwieweit er nach seinem Leistungsvermögen zum Zwecke einer gleichmäßigen Versorgung der Kreiseinwohner ergänzend oder ausgleichend tätig wird. Diesem Erfordernis entspricht eine generalklauselartige Ermächtigung am ehesten. Sie gibt den Kreisen die notwendige Fähigkeit zu einer zweckmäßigen Aufgabenerfüllung - nämlich einer solchen, die an der unterschiedlichen gemeindlichen Leistungsfähigkeit und an den konkreten Bedürfnissen im Kreisgebiet orientiert ist.

 

Jetzt zur zweiten Frage: Wie muß eine Generalklausel aussehen, damit man ihr eine Zuweisung von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben entnehmen kann?

 

Die generalklauselartigen Zuweisungen an die Kreise sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich ausgestaltet. Wenn Formulierungen wie Unterstützung, Ergänzung und Förderung benutzt werden, ist in der Regel aber deutlich zu erkennen, daß die Zuweisung von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben gemeint ist. Problematischer stellt sich möglicherweise die Rechtslage in den Ländern dar, in denen solche Formulierungen fehlen und sich die Aufgabenzuweisungsnormen im wesentlichen damit begnügen, von der Wahrnehmung überörtlicher Angelegenheiten zu sprechen. Dies ist etwa in Bayern und Nordrhein-Westfalen, aber eben auch hier in Thüringen der Fall (§§ 86, 87 ThürKO). Deshalb hat etwa auch der BayVGH angenommen, daß die Kreise nach bayerischem Recht grundsätzlich nicht die Aufgabe haben, die unterschiedliche Leistungskraft oder Leistungswilligkeit ihrer kreisangehörigen Gemeinden auszugleichen. Schon im Hinblick auf die Überlegungen, die ich bisher vorgetragen habe, kann dem kaum gefolgt werden. Richtig dürfte vielmehr sein, daß den Kreisen in allen Ländern Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben zukommen. Das möchte ich am Beispiel des thüringischen Rechts in aller Kürze zeigen.

 

Beginnen wir mit der Interpretation nach dem Wortlaut. Nach dem Wortlaut der §§ 86 Abs. 1 und 87 Abs. 1 der Thüringer Kommunalordnung sind den Kreisen die überörtlichen Angelegenheiten, deren Bedeutung über das Kreisgebiet nicht hinausgeht, zugewiesen. Unter diesen Begriff der "überörtlichen" Angelegenheiten lassen sich alle Angelegenheiten fassen, die nicht allein einen örtlichen Bezug haben, sondern diesen überschreiten. Dies trifft auf die Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben zu. Die Unterstützung der kreisangehörigen Gemeinden kann nur von einem überörtlichen Verwaltungsträger durchgeführt werden. Nun könnte man allerdings auch daran denken, das Kriterium "überörtlich" so zu verstehen, daß nur solche Angelegenheiten umfaßt würden, denen jeder Bezug zur örtlichen Gemeinschaft fehlt. Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben wären dann von der Zuweisung nicht erfaßt. Tatsächlich ist diese Interpretation aber ausgeschlossen, da viele Angelegenheiten des Staates auch und gerade die örtliche Gemeinschaft betreffen, sich nämlich in deren Gebiet auswirken.

 

Im übrigen wird man wohl sagen müssen: Wenn der Landesgesetzgeber den Begriff der "Überörtlichkeit" im denkbar engsten Sinne hätte verwenden wollen, wenn er also wirklich den Kreisen ausschließlich "übergemeindliche" Aufgaben hätte zuweisen wollen - die nicht einmal theoretisch von den Gemeinden wahrgenommen werden können - , dann hätte er das ganz einfach in die Thüringer Kommunalordnung hineinschreiben können. Denn die traditionelle Aufgabentrias, die eingebürgerte Dreiteilung, die man seit jeher mit den überörtlichen Aufgaben der Kreise assoziiert, war ihm bekannt - immerhin datiert die Thüringer Kommunalordnung ja erst vom 16. August 1993. Eine solche Reduzierung hat der Gesetzgeber gerade nicht vorgenommen.

 

Daher spricht bereits die Wortlautinterpretation für eine Einbeziehung der Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben.

 

Als nächstes sollten wir einen Blick auf die systematische Stellung der §§ 86 Abs. 1 und 87 Abs. 1 der Thüringer Kommunalordnung werfen. Die Zuweisung der überörtlichen Angelegenheiten an die Kreise steht in einem Sinnzusammenhang mit den anderen Aussagen der Kreisordnung. Diese gehen dahin, daß den Gemeinden die Erfüllung der örtlichen Aufgaben obliegt (§ 1 Abs. 3 Satz 1 ThürKO) und die Kreise diese Zuständigkeit zu respektieren haben (§ 86 Abs. 2 Satz 1 ThürKO). Das besagt nichts anderes, als daß die Aufgabenwahrnehmung durch die Kreise die Zuständigkeit der Gemeinden nicht beschränken soll. In diesem Sinne müssen die Kompetenzen der Kreise zur Wahrnehmung von Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben ja auch verstanden werden. Wie dargestellt wurde, bedeutet das ergänzende und ausgleichende Handeln der Kreise keinen Entzug von Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft. Es stellt die Allzuständigkeit der Gemeinden für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nicht in Frage. Die Aufgabe bleibt vielmehr weiterhin bei den Gemeinden, die Kreise werden nur daneben mit Wirkung für die örtliche Gemeinschaft tätig.

 

Weiter ist zu verweisen auf § 87 Abs. 3 der Thüringer Kommunalordnung. Hier wird das gerade Gesagte bestätigt, da ausdrücklich festgelegt wird, daß die Kreise die Aufgaben von kreisangehörigen Gemeinden übernehmen können, wenn und solange diese das Leistungsvermögen der beteiligten Gemeinden übersteigen. Mit dieser Regelung wird im übrigen auch der allgemeine Grundsatz bestätigt, daß der Kreis eine Ergänzungsaufgabe auch lediglich für ein Teilgebiet des Kreises wahrnehmen kann. Auch wenn also eine leistungsstarke Gemeinde ein Krankenhaus selbst betreibt, ist der Kreis nicht gehindert, für den unversorgten Restteil des Kreises ein Krankenhaus zu bauen. Auch die systematische Auslegung der einschlägigen Vorschriften spricht daher für eine Erstreckung der überörtlichen Kreisaufgaben auf die Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben.

 

Meine Damen und Herren! Die Überlegungen, die ich vorgetragen habe, haben deutlich werden lassen, daß alles dafür spricht, eine Aufgabe bereits dann als überörtlich anzusehen, wenn sie zwar örtlicher Regelung und Erledigung zugänglich ist, ihre Wahrnehmung aber die Leistungskraft mindestens einzelner kreisangehöriger Gemeinden übersteigt. Man könnte allenfalls daran denken, die überörtlichen Angelegenheiten (des § 86 Abs. 1 Satz 1 Thüringer Kommunalordnung) nur auf die Ergänzungs-, nicht aber auf die Ausgleichsaufgaben zu erstrecken. Eine solche Differenzierung kann aber nicht Sinn und Zweck der in Frage stehenden Vorschriften sein. Ob der Kreis selbst ergänzend tätig wird bzw. Förderungsmittel an private Aufgabenträger leistet - auch dies ist Wahrnehmung einer Ergänzungsaufgabe! - oder ob er die kreisangehörigen Gemeinden unterstützt, macht keinen qualitativen Unterschied aus. Die Förderung der Gemeinden stellt sich als eine bloße Fortsetzung der eigenen Sachaufgabenerfüllung der Gemeinden dar, die diese sogar besonders schont. Die funktionale Vertauschbarkeit der Wahrnehmung einer ergänzenden und einer ausgleichenden Aufgabe läßt es darüber hinaus sinnwidrig erscheinen, die letztere im Sinne des Verwaltungsgerichts Weimar davon abhängig zu machen, daß sie allen Gemeinden des Kreises gleichmäßig zugute kommt. Das Erfordernis des gleichmäßigen Zugutekommens stünde für die ergänzenden Aufgaben in diametralem Gegensatz zum Gesetz und ist auch für die ausgleichenden Aufgaben verfehlt.

 

Alle angewandten Auslegungsmethoden legen das Ergebnis nahe, daß die Generalklausel des § 86 Abs. 1 der Thüringer Kommunalordnung den thüringischen Kreisen auch Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben übertragen hat. Das entspricht auch der traditionellen Auslegung der vergleichbaren Vorschriften.

 

Auch in den Ländern wie Thüringen, in denen die allgemeinen Aufgabenzuweisungsnormen sich im wesentlichen damit begnügen, von der Wahrnehmung überörtlicher Angelegenheiten zu sprechen, dürfte also gelten: Den Kreisen sind hier wie anderswo ergänzende und ausgleichende Aufgaben im traditionellen Sinne zugewiesen. Es bleibt beim herkömmlichen Zuschnitt der Kreisaufgaben. Nur die Einbeziehung der ergänzenden und ausgleichenden Aufgaben wird dem Charakter der Kreise als eines Aufgaben- und Lastenverbandes und der im Lauf der geschichtlichen Entwicklung gewachsenen Arbeitsteilung zwischen den Kreisen und kreisangehörigen Gemeinden gerecht.

 

Im Anschluß an das Bundesverwaltungsgericht ist vielleicht noch besonders hervorzuheben, daß vom Boden der geschilderten Auffassung die Kreise sehr wohl auch finanzielle Zuschüsse an kreisangehörige Gemeinden und an private Dritte gewähren dürfen. Mit der Zuschußgewährung werden die Gemeinden ja, wie ich schon früher betont habe, lediglich in die Lage versetzt, ihre örtlichen Aufgaben in eigener Zuständigkeit wahrzunehmen - also die Aufgaben, die sie ohne Unterstützung des Kreises nicht oder weniger wirksam erfüllen könnten. Nun werden die in diesem Rahmen von den Kreisen gewährten Zuschüsse ja für bestimmte Zwecke gezahlt. Auch das ist aber rechtlich nicht bedenklich, auch nicht im Hinblick auf die gemeindliche Selbstverwaltung. Denn wenn es zu den Aufgaben des Kreises gehört, auf eine gleichmäßige Versorgung der Einwohner im Kreisgebiet hinzuwirken, dann muß er berechtigt sein, die Fördermittel dorthin zu leiten, wo sie im Interesse einer sinnvollen und koordinierten Entwicklung des gesamten Kreisgebiets am ehesten benötigt werden. Dann muß der Kreis eben das Recht haben, die Förderung der Gemeinden an entsprechende Bedingungen zu knüpfen. Die Zweckbindung der Zuschüsse ist also für die Ausübung der Ausgleichsfunktion geradezu typisch. Fragwürdig würde das Ganze sogar gerade dann, wenn der Kreis allgemeine Finanzhilfen an die Gemeinden gewährte. Denn dann liefe er Gefahr, das landesgesetzlich normierte kommunale Finanzausgleichssystem zu stören, ja zu konterkarieren.

 

Gestatten Sie mir bitte noch ein letztes Wort zu der vieldiskutierten und auch von mir heute schon mehrfach gestellten Frage, ob die Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben der Kreise einschließlich der finanziellen Unterstützungsleistungen über die Kreisumlage finanziert werden dürfen. Erst wenn auch diese Frage positiv beantwortet wird, rundet sich das hier vorgestellte System zu einem geschlossenen Ganzen. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit einer bejahenden Antwort keine Probleme. Angelpunkt seiner Beweisführung ist die Überlegung, daß es der Kreis ist, der das Maß der gebotenen Förderung und Unterstützung bestimmt. Er legt den Umfang der von ihm zu erfüllenden Aufgaben auf Grund des ihm zustehenden Selbstverwaltungsrechts in eigener Verantwortung fest, soweit er nicht gesetzlich zur Aufgabenwahrnehmung verpflichtet ist. Seine eigenverantwortliche Aufgabenbestimmung haben die kreisangehörigen Gemeinden im Grundsatz als rechtmäßig hinzunehmen. Von ihr hängt dann zwangsläufig die Höhe der Kreisumlage ab, die auf der Grundlage des gesamten Finanzbedarfs, der nicht anderweitig gedeckt ist, erhoben wird.

 

Wenn Kreiszuschüsse, die ja nur den nicht leistungsfähigen Gemeinden gewährt werden dürfen, daher auf Grund der Art und Weise ihrer Finanzierung umverteilende Wirkungen entfalten, ist dies verfassungsrechtlich unbedenklich. Dieser Effekt ist mit der Erfüllung der Ausgleichsfunktion wesensnotwendig verbunden. Auch wenn man alledem folgt, bedeutet das keinen Freibrief für die Kreise: Bei der Wahrnehmung der Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben haben die Kreise vielmehr auf die Gemeinden Rücksicht zu nehmen und abzuwägen zwischen der Bedeutung der Aufgabe einerseits und der dadurch verursachten Beschränkung der gemeindlichen Finanzhoheit andererseits. Sie haben insbesondere darauf zu achten, daß den Gemeinden die finanzielle Mindestausstattung verbleibt, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen. Das ist in Zeiten allseits wachsender Finanznöte sicher eine Aufgabe, die der Quadratur des Kreises gleichkommt. Mag aber die Schwierigkeit, Maßstäbe für die gebotene Abwägung zu entwickeln, noch so groß sein: Sie darf nicht dazu verführen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und eine Ergänzungs- und Ausgleichsaufgabe der Kreise schlicht zu leugnen.