Professor Dr. Rudolf Wendt

Vortrag:

Grundfragen der Familienbesteuerung

 

 

Meine Damen und Herren,

 

gestatten Sie mir zunächst eine terminologische Vorbemerkung zum Thema meines Vortrags. Ich möchte dem Vorwurf entgegentreten, ich hätte einen Gegenstand zum Thema meines Vortrags gemacht, der in Wahrheit im geltenden Recht gar nicht existiere. Richtig ist natürlich, daß im derzeitigen deutschen Steuerrecht eine Besteuerung der Familie als solcher gerade nicht stattfindet. Die Familie, verstanden als Gemeinschaft von Eltern und Kindern, idealiter: als auf eine Ehe gegründete Gemeinschaft von Eltern und Kindern, ist nicht steuerpflichtig. Nicht einmal eine Haushaltsbesteuerung existiert. Wir alle wissen, daß unser Einkommensteuersystem vielmehr dem Prinzip der Individualbesteuerung folgt, auch für den Bereich der Familie. Legen Sie also bitte den Begriff der Familienbesteuerung nicht auf die Goldwaage, denken Sie sich ihn meinetwegen als mit Anführungszeichen versehen.

Wenn Sie mich näher kennten, wüßten Sie, daß mir solche Begriffsunschärfen nicht liegen. Doch fällt es schwer, eine kurze und prägnante Bezeichnung für das, worüber ich sprechen will, zu finden. Auf keinen Fall würde ich die Bezeichnung "Familienlastenausgleich" oder "Kinderlastenausgleich" akzeptieren. Derartiges erinnert zu sehr an den Lastenausgleich zur Überwindung von Kriegsfolgelasten oder der Lasten eines zusammengebrochenen Wirtschaftssystems, erinnert also an eine subventionsrechtliche Hilfe bei besonderem, individuell als schicksalhaft erlebtem Unglück. Wenn wir solche Bezeichnungen zulassen, bekommt das Thema von vornherein eine unrettbare Schieflage. Aus der Familie wird eine "Last", dazu noch eine selbstverschuldete. Ist man einmal so weit, gerät die Familie zum Sozialfall, wird sie zum subventionsähnlichen Ausgleichstatbestand, zum Bittsteller gegenüber Staat und Gesellschaft, dessen Ansprüche man je nach dem Zustand der öffentlichen Kassen befriedigen oder zurückweisen kann. Die eigentliche Frage, nämlich die, wie man dem Willen zur Finanzierung der Familie aus eigener Kraft steuerlich gerecht werden kann, gerät dabei aus dem Blickfeld. Ich will nicht verhehlen, daß ich finde, daß die öffentliche Diskussion längst an diesem Punkt angelangt ist.

 

Der Sache nach geht es mir um eine ehe-, familien- und nicht zuletzt kindergerechte Gestaltung des Einkommensteuerrechts, insbesondere um die steuerliche Berücksichtigung des existentiellen Bedarfs der Familienmitglieder und der innerhalb der Familie zu erbringenden Unterhaltsleistungen. Daß ich mit diesem Thema angesichts einer über Jahrzehnte geführten Diskussion nicht gerade jungfräulichen Boden beackere, ist mir - und sicherlich auch Ihnen - klar. Es geht mir aber auch nicht etwa darum, Ihnen ein völlig neues Besteuerungsmodell vorzustellen. Dieses Geschäft wird gegenwärtig im Übermaß von anderen besorgt: den mehr oder weniger berufenen Politikern jedweder Couleur, die dem staunenden Publikum alle paar Tage ein neues Modell des sogen. Familienlastenausgleichs präsentieren. Dabei liegt der Akzent einmal mehr auf Steuererleichterungen, einmal mehr auf der Anhebung des Kindergeldes. Gegenwärtig hat man - die Wahlen in Hessen und Nordrhein-Westfalen lassen grüßen - eher die Spendierhosen angezogen. Die CDU-Sozialausschüsse wollen Familien mit Kindern einen warmen Platzregen durch eine Vervielfachung des Kindergeldes bescheren und lassen die Sozialdemokraten mit ihrem Satz von 250 DM pro Kind alt aussehen. Der Bundesfinanzminister ist die Rolle des oft gescholtenen Verwalters leergebrannter Kassen offenbar gründlich leid, verwandelt sich vom knausrigen Saulus zum spendierfreudigen Paulus und will fürs erste sechs Milliarden Mark für eine Erhöhung des Kindergeldes locker machen. Zur Finanzierung solcher Wohltaten wird nicht selten ein Abbau des Ehegatten-Splitting propagiert, während die Grünen - nicht sonderlich originell - schlicht die "Besserverdienenden" zur Kasse bitten wollen.

 

Nahezu jeder tut in Sachen des sogen. Familienlastenausgleichs so, als gelte es, das Rad neu zu erfinden, als handele es sich um eine frei gestaltbare, ganz von der politischen Überzeugung abhängige Materie - wobei eben der vage Begriff "Familienlastenausgleich" den Politikern suggeriert, sie könnten entsprechend ihrer politischen Couleur und sozialpolitischen Prägung das Ausmaß der Familienförderung frei bestimmen. In Wahrheit liegen die Dinge anders. Den Juristen erstaunt, in welch geringem Maße die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung

 

- BVerfG 61, 319; 66, 214; 67, 290; 68, 143; 82, 60;
82, 198.

 

und zur Steuerfreiheit des Existenzminimums

 

- BVerfG v. 25. 9. 1992, BVerfGE 87, 153.

 

zur Kenntnis genommen werden. Und werden sie zur Kenntnis genommen, bedeutet das noch lange nicht, daß sie auch wirklich beachtet werden. Nur zu oft sind die Politiker von vornherein fest entschlossen, den Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber läßt, bis an die äußersten Grenzen auszuschöpfen. Da ist es nicht verwunderlich, daß das Bundesverfassungsgericht stets aufs neue durch Grenzüberschreitungen herausgefordert wird.

 

Ich möchte mit meinen heutigen Überlegungen ein wenig dazu beitragen, daß die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht und die Rechtswissenschaft für die Gesetzgebung im Laufe der Zeit erarbeitet haben, stärker beachtet werden, als dies bisher der Fall ist.

 

 

Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit

 

Das Verfassungsrecht stellt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Familienbesteuerung insbesondere die folgenden zwei Anforderungen:

 

-          die realitätsgerechte, mit dem Sozialhilferecht abgestimmte Steuerfreiheit des Existenzminimums, und

 

-           die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen.

 

Die Steuerfreiheit des Existenzminimums hat das Bundesverfassungsgericht in den grundlegenden Entscheidungen von 1990

 

- BVerfGE 82, 60.

 

und 1992

 

- BVerfGE 87, 153.

 

festgeschrieben. Die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen hat es sehr deutlich bereits in einem Beschluß vom Februar 1984

 

- BVerfG vom 22. 2. 1984, BVerfGE 66, 214.

 

gefordert.

 

Beides ist in der Tat notwendige Konsequenz des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit. Dieses ist verfassungsrechtlich fundiert und beansprucht durchgehende Geltung im Steuerrecht. Es trägt dem Umstand Rechnung, daß der Staat bei der Steuererhebung auf das Vermögen zugreift, das der einzelne in Ausübung seiner grundrechtlichen Erwerbs-, Berufs- und Eigentumsfreiheit rechtens erworben hat und das gegenüber diesem Zugriff durch die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie geschützt ist. Die steuerliche Belastbarkeit ist an Hand einer Abwägung des eigentumsgrundrechtlich geschützten Erhaltungsinteresses und des öffentlichen Abschöpfungsinteresses an einem potentiell beanspruchbaren Einkommensteil zu ermitteln. Eines der ersten Ergebnisse dieser Abwägung ist, daß das Einkommensteuerrecht nicht das Roheinkommen belastet, sondern den Abzug der zur Erwerbung des Einkommens getätigten Aufwendungen zuläßt.

 

In unserem Zusammenhang geht es nun - weitergehend - um die Frage des Abzugs der zur Existenzsicherung getätigten Ausgaben. Insofern ist entscheidend, daß Einkommen erworben wird, um den individuellen Bedarf des Erwerbenden zu befriedigen. Es hat daher zunächst den notwendigen Lebensbedarf des Einkommensbeziehers und der ihm gegenüber Unterhaltsberechtigten zu sichern. Es verstieße gegen die Garantie der Berufs- und Eigentümerfreiheit, wenn der Staat dem Einkommensbezieher durch Besteuerung Einkommensteile nähme, die er ihm durch das Sozialrecht zur Sicherung des existentiellen Bedarfs wieder zurückgeben müßte; ja man wird aus der Anerkennung der individuellen Leistung als Grundlage des Erwerbens darüber hinaus folgern müssen, daß der Erwerbende über mehr Einkommen verfügen soll als derjenige, der auf bedarfsdeckende Leistungen des Staates angewiesen ist. Aus dem richtig verstandenen Wertungsprinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit ergibt sich daher auch, daß der Staat steuerliche Teilhabe an dem privat erwirtschafteten Einkommen nur beanspruchen kann, soweit die finanzielle Ausstattung dem Bürger eine Teilabgabe seines Einkommens für öffentliche Zwecke erlaubt, soweit also das Einkommen für die Steuerzahlung überhaupt verfügbar ist. In diesem Sinne folgert denn auch das Bundesverfassungsgericht aus dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, daß auch die außerhalb der Sphäre der Einkommenserzielung - also im privaten Bereich - anfallenden, für den Steuerpflichtigen unvermeidbaren Ausgaben einkommensteuerrechtlich beachtet, d. h. in realitätsgerechter Weise zum Abzug zugelassen werden müssen. Das gilt insbesondere für die unvermeidbaren privaten Aufwendungen für einen selbst wie für die Familienangehörigen.

 

Daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß, ergibt sich über die bereits genannten Verfassungsnormen hinaus, d. h. über die Berufs- und Eigentümerfreiheit hinaus, auch aus dem in Art. 6 Abs. 1 GG besonders anerkannten Schutz von Ehe und Familie. Das Bundesverfassungsgericht betont insofern zu Recht, daß die Steuerfreiheit des Existenzminimums für die Familie unabhängig davon gilt, wie die Besteuerung im einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden. Auch wenn, wie es in aller Regel bei Eltern mit noch nicht selbst verdienenden Kindern der Fall sei, nur einzelne Familienmitglieder ein Einkommen erzielten und diese auf Grund gesetzlicher Verpflichtung für den Unterhalt der weiteren Familienmitglieder aufkämen, müsse das Existenzminimum für die gesamte Familie steuerfrei bleiben. Die Begründung hierfür: Auch in diesem Fall müsse der Staat, wenn er dem Steuerpflichtigen die Mittel für die Unterstützung der unterhaltsbedürftigen Familienmitglieder entziehe, diese in entsprechender Höhe auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung aus dem Sozialstaatsgebot selbst unterstützen. Überlasse er dagegen die Unterstützung dem Bürger, sei es inkonsequent, diesem die dafür benötigten Mittel ganz oder teilweise im Wege der Besteuerung mit der Folge zu entziehen, daß der Staat die Unterstützung des Bedürftigen selbst übernehmen müsse.

 

Ich schlage vor, die Steuerfreiheit des individuellen und des familiären Existenzminimums und die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen nicht weiter in Frage zu stellen, sondern sie als verfassungsrechtlich begründete Prämissen einer rechtsstaatlichen, freiheitlichen und sozial gerechten Steuergesetzgebung zu akzeptieren. Wenn Sie mir darin folgen, müssen wir nach den Konsequenzen dieser Anforderungen fragen. Der Teufel steckt auch hier im Detail.

 

 

Die steuerpolitischen Aufgaben

 

Diejenigen von Ihnen, die nur ein wenig die steuerpolitische Diskussion dieser Tage mitverfolgen, wissen, daß die vorgetragenen Ideen keineswegs lediglich Produkte wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens sind, das sich selbst genügt. Sie haben vielmehr höchst reale Auswirkungen auf die Politik, können Milliarden-Ströme in Bewegung setzen, umlenken oder zum Versiegen bringen - dank dem Bundesverfassungsgericht, das seinen verfassungsrechtlichen Erkenntnissen die Umsetzung in der praktischen Politik und Gesetzgebung zu sichern vermag. In seinem Urteil vom 25. 9. 1992 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die Regelung des Grundfreibetrages in dem seit dem 1. 1. 1990 geltenden Einkommensteuertarif nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot entspricht, das Existenzminimum von der Steuer freizustellen. Wegen der Gesamtwirkung des Grundfreibetrags auf den Tarifverlauf wurde allerdings nicht nur der Grundfreibetrag selbst, sondern der gesamte in § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG geregelte Tarif für verfassungswidrig erklärt. Dem Gesetzgeber wurde aufgetragen, spätestens bis zum 1. 1. 1996 eine Neuregelung zu treffen. Dies ist einer der zentralen Gründe für die tagespolitische Aktualität unseres Themas.

 

Die gebotene Neuregelung des individuellen Existenzminimums zwingt auch zu einem Überdenken der Angemessenheit der Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 6 EStG) und des Ehegattensplitting (§§ 26 b, 32 a Abs. 5 EStG), den Instituten, mittels derer heute neben dem Grundfreibetrag der Unterhaltsbedarf des Steuerpflichtigen und seiner Familie berücksichtigt wird. Wegen der implizierten Verfassungswidrigkeit des geltenden Lohn- und Einkommensteuertarifs bzw. weil die Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums sich auch auf die Besteuerung des Einkommens auswirkt, das dieses Existenzminimum übersteigt, ist auch der Einkommensteuertarif zu überprüfen. Außerdem und zuallererst erfordert eine auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit abgestellte Besteuerung, die für die individuelle und familiäre Bedürfnisbefriedigung und die Steuerzahlung verfügbaren Mittel möglichst lückenlos zu erfassen, d. h. es ist eine möglichst vollständige Erfassung des erwirtschafteten Einkommens erforderlich. Werden nicht alle Teile des Markteinkommens berücksichtigt, scheitert der Versuch, das Existenzminimum realitätsgerecht anzusetzen daran, daß der Pflichtige ärmer erscheint, als er es tatsächlich ist; das Existenzminimum wird unnötig hoch angesetzt.

 

 

Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer und Tarif

 

Eine vollständigere Erfassung des Markteinkommens und damit eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer könnte die Steuerausfälle auf Grund der erforderlichen Anhebung des Grundfreibetrags zum Teil kompensieren. Der Sachverständigenrat meint sogar, daß hier eine weitgehende Kompensation denkbar sei - und das immerhin bei angenommenen Steuerausfällen von 40 Mrd. DM. Er weist zunächst darauf hin, daß bestimmte Arten der Einkommen ganz oder teilweise vom Gesetzgeber freigestellt werden - so z. B. Zinserträge aus bestimmten Kapitallebensversicherungen, realisierte Vermögenszuwächse im Bereich der privaten Haushalte (Einkünfte aus der Veräußerung nichtbetrieblichen Erwerbsvermögens, nach Ablauf der Spekulationsfristen), bestimmte Lohnzuschläge. Ein weiterer Teil der Einkommen werde auf Grund von Steuerhinterziehung nicht deklariert. Darüber hinaus lasse der Gesetzgeber in großem Ausmaß - meist aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen - Abzüge bei der Bemessungsgrundlage zu, wie Sonderabschreibungen und Sonderausgaben.

 

Vom möglichst vollständig ermittelten Markteinkommen sind die Teile abzuziehen, die für die Steuerzahlung nicht verfügbar sind und daher keine steuerliche Leistungsfähigkeit beinhalten. Zuallererst gilt das für die Aufwendungen, die zur Existenzsicherung des Steuerpflichtigen unabwendbar sind, also vor allem diejenigen für Ernährung, Kleidung, Wohnung. Diese Aufwendungen wären richtigerweise schon von der Bemessungsgrundlage auszusondern. Diesem Erfordernis wird bisher bei der Einkommensbesteuerung nicht entsprochen. Die systematisch richtige Methode wäre, das Existenzminimum bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens in Abzug zu bringen. Statt dessen wird ein anderer Weg gewählt: Das Existenzminimum wird in Form des sogenannten Grundfreibetrages in den Tarif eingebaut. Die Folge: Die tarifbedingte Steuerbelastung setzt erst nach einer "Nullzone" ein. Der systematische Fehler, das zu versteuernde Einkommen um das Existenzminimum überhöht auszuweisen, wird also durch eine fragwürdige Systemdurchbrechung beim Tarif anzugleichen versucht. Man muß zwar einräumen, daß bei beiden Arten der Berücksichtigung des Existenzminimums das gleiche Belastungsergebnis zu erreichen ist. Solange wir aber an diesem Systemfehler festhalten, gibt es im deutschen Einkommensteuerrecht keinen Einkommensbegriff, der die Leistungsfähigkeit methodisch richtig erfaßt. Das Fazit ist: Wenn Fehlinterpretationen durch den Begriff des "zu versteuernden Einkommens" vermieden werden sollen, ist für die Zukunft auch formal der Abzug des Existenzminimums von der Bemessungsgrundlage zu fordern, damit die Meßfunktion der Bemessungsgrundlage und die Belastungsfunktion des Tarifs klar gegeneinander abgegrenzt werden.

 

 

Das Modell des Bundesfinanzministers zur Freistellung des Existenzminimums

 

Das von Bundesfinanzminister Theo Waigel zur Freistellung des Existenzminimums jüngst vorgestellte Modell genügt diesen steuersystematischen und verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Leitidee dieses Modells ist, daß ein "Besserverdienender" den Grundfreibetrag nicht brauche, weil sein Existenzminimum trotz der Besteuerung gewährleistet bleibe. Das Modell führt einen Entlastungsbetrag ein, der von der Steuer abgezogen und mit steigendem Einkommen rasch verringert wird. Bei einem Einkommen von mehr als 30.000 oder - bei Verheirateten - mehr als 60.000 DM sieht das Modell keinerlei gesonderte Entlastung mehr vor. Allerdings sollen alle Steuerzahler dadurch eine Entlastung erfahren, daß sämtliche Steuersätze um 0,7 Prozentpunkte gesenkt werden.

 

Steuersystematisch würde eine solche Regelung weit hinter den jetzigen Zustand zurückfallen. Das Modell glaubt sich jedoch auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1992 berufen zu können, das eine Gestaltung des Einkommensteuertarifs dahingehend für zulässig hält, "daß die Entlastungswirkung des angemessen quantifizierten Existenzminimums, das zunächst bei allen Steuerpflichtigen berücksichtigt wird, schrittweise kompensiert wird".

 

- BVerfGE 87, 153 (170).

 

Ich meine, diese Feststellung darf "verfassungskonform" nur so verstanden werden, daß bei allen Steuerpflichtigen das Existenzminimum realtitätsgerecht freigestellt wird. Die hierdurch bei allen Steuerpflichtigen bewirkte Entlastung kann dann schrittweise neutralisiert oder kompensiert werden durch eine Verschärfung der Progression, im Extremfall meinetwegen sogar überkompensiert werden bei hohen Einkommen, wenn der Staat dies Geld benötigt. Unverzichtbares Postulat bleibt aber, daß das Existenzminimum bei allen Pflichtigen sichtbar vom Steuerzugriff ausgenommen bleibt. Das ist aber nach dem Modell des Bundesfinanzministers, das ab einer Einkommenshöhe von 30 bzw. 60.000 DM das gesamte Einkommen der Tarifbelastung unterwirft, gerade nicht der Fall. Umgekehrt: Auch die Belastungswirkung des Tarifs für die für eine Steuerzahlung überhaupt zur Verfügung stehenden Einkommensteile ist nicht ersichtlich. Daher ist dem Tarif-Gesetzgeber die verfassungsgebotene rationale Abwägung zwischen dem potentiell beanspruchbaren Einkommensteil und dem fiskalischen Abschöpfungsinteresse gar nicht möglich. Er kennt den für eine Steuerzahlung disponiblen Einkommensteil überhaupt nicht. In entlarvender Offenheit preist das Bundesfinanzministerium gerade an seinem Entwurf, daß, sobald der neue Tarif erst einmal eingeführt sei, künftige Erhöhungen des steuerlichen Existenzminimums für die mittleren und höheren Einkommen keinerlei Entlastungswirkung haben würden. Wie sollte das auch anders sein: Die "Unrichtigkeit", die "Unwahrheit" der Bemessungsgrundlage soll ja zum Angelpunkt des neuen Systems der Einkommensbesteuerung werden. Wegen der erklärten Irrelevanz des Existenzminimums für die mittleren und höheren Einkommen wäre heute wie künftig nicht gewährleistet, daß in diesen Bereichen "von den das Existenzminimum übersteigenden Einkommensteilen des Steuerpflichtigen diesem jeweils angemessene Beträge verblieben" - eine Forderung immerhin, die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich aufstellt, und zwar zu Recht. Das Verfassungsrecht erlaubt hier keine rein quantitative, sondern verlangt eine qualitative Betrachtungsweise.

 

Soweit nach dem Modell eine Freistellung des Existenzminimums erfolgen soll, wird dies mit ca. 12 bzw. 24.000 DM angesetzt. Die Bareis-Kommission hatte empfohlen, das Existenzminimum auf 13 bzw. 16.000 DM festzulegen.

 

 

Existenzsicherung von Kindern

 

Auch die Einkommensteile, die zur Existenzsicherung von Kindern zwangsläufig aufzuwenden sind, sind für die Steuerzahlung nicht disponibel und daher ebenfalls von der Bemessungsgrundlage auszusondern. Auch diesen Aufwendungen kann sich der Steuerpflichtige nicht entziehen. Daher ist ein Steuerpflichtiger mit Kindern unter ansonsten vergleichbaren Verhältnissen weniger leistungsfähig als ein Steuerpflichtiger ohne Kinder. Auch der Einkommensmillionär hat Einkommen, das für die Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht. Ein Einkommensmillionär mit Kindern ist weniger leistungsfähig als ein Einkommensmillionär ohne Kinder. Eine systemgerechte Lösung ist es, Unterhaltsaufwendungen für Kinder in Form von Freibeträgen bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens in Abzug zu bringen. Mit § 32 EStG wird hier vom Ansatz her der richtige Weg eingeschlagen. Allerdings sind die Kinderfreibeträge mit 4.104 DM pro Kind zu niedrig bemessen, um die tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen in realistischer Höhe steuerfrei zu stellen. Nach Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts (des Bundes der Steuerzahler) ist der Kinderfreibetrag um etwa 1.800 DM zu niedrig, so daß das zu versteuernde Einkommen entsprechend überhöht festgesetzt wird. Die daraus resultierende Überbesteuerung wird durch das Kindergeld keineswegs in allen Fällen ausgeglichen.

 

Es fragt sich, ob dieser Mangel durch eine Erhöhung des Kindergeldes beseitigt werden könnte. Es gibt ja, wie eingangs geschildert, genügend Stimmen, die für diese Kindergeldlösung plädieren. Und immerhin können sich diese Stimmen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1990

 

- BVerfGE 82, 60 (78 f.).

 

berufen, nach der das Kindergeld die Aufgabe hat, die steuerliche Mehrbelastung der Familien auszugleichen, solange der Kinderfreibetrag niedriger festgesetzt ist als das Existenzminimum des Kindes.

 

Ich will nicht verhehlen, daß mir diese These der Wahlfreiheit des Gesetzgebers zwischen steuerlicher Verschonung des Existenzminimums und Gewährung von Kindergeld nicht paßt, ja verfehlt erscheint. Das Bundesverfassungsgericht bleibt hier zu sehr dem traditionellen Dualismus von Kinderfreibetrag und Kindergeld verhaftet und wagt nicht, seinen eigenen Prämissen treu zu bleiben: Die Sozialpflichtigkeit des Erworbenen, die eine Besteuerung rechtfertigt, beginnt überhaupt erst jenseits des Existenzminimums. Ein steuerlicher Eingriff in das Existenzminimum kann aus verfassungsrechtlichen Gründen auch nicht durch kompensatorische Gewährleistung von Sozialleistungen wie dem Kindergeld aufgefangen und so gerechtfertigt werden. Es ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes schlechterdings unvereinbar, wenn dem Bürger die selbst erworbenen Mittel, mit denen er den notwendigen Lebensunterhalt seiner Familie aus eigener Kraft finanzieren kann und will, durch Besteuerung entzogen werden und man ihn insoweit auf staatliche Sozialleistungen verweist, die das durch die Besteuerung Entzogene wieder ausgleichen.

 

Aus dem grundlegenden Prinzip der Menschenwürde in Verbindung mit den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) und dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) ergibt sich notwendig ein verfassungsrechtlicher Vorrang des eigenverantwortlichen Erwerbs vor staatsvermittelter Subsistenz. Der einzelne Bürger hat das Recht - und zugleich gegenüber der Allgemeinheit die Pflicht - sich und seine Familie mit eigenen Kräften selbst zu unterhalten, bevor er soziale Hilfen der Allgemeinheit in Anspruch nimmt bzw. auf sie verwiesen werden kann. Das im Bereich der Sozialhilfe geltende Subsidiaritätsprinzip geht demnach auf fundamentale verfassungsrechtliche Wertungen zurück. Oder ganz simpel: Es ist nicht verfassungskonform, Familien mit Kindern zunächst so zu besteuern, als hätten sie keine Kinder, um ihnen nachher als Sozialleistung Kindergeld zu gewähren.

 

Die Anhebung des steuerlichen Kinderfreibetrags auf die tatsächliche Höhe des Existenzminimums hat daher gegenüber einer Erhöhung des Kindergeldes nicht nur steuersystematisch, sondern auch kraft des Gebots verfassungsgemäßer Besteuerung unbedingten Vorrang. Nur durch die Anhebung des Freibetrags wird die kindbedingte Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit in vollem Umfang bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage berücksichtigt und das zu versteuernde Einkommen richtig bestimmt. Der Politik muß diese Sicht der Dinge Schwierigkeiten bereiten; sie verliert die Möglichkeit, den steuerlichen Kinderfreibetrag als familienpolitische Transferleistung darzustellen. Nicht einmal als Familienleistungsausgleichsmaßnahme läßt sich der Freibetrag verkaufen - wenn man unter Familienleistungsausgleich das verstehen wollte, was der Staat aus Eigenem aufwendet, um die Leistungen der Familien für Staat und Gesellschaft abzugelten. In Wahrheit ist die Politik aber besser als ihr Ruf, ist doch in den letzten Jahren der Kinderfreibetrag Schritt für Schritt erhöht worden.

 

Bei einem realitätsgerechten Kinderfreibetrag, für den von den verschiedensten Seiten wenigstens 6.000 DM angegeben,

 

- Z. B. der Finanzexperte der FDP Thiele, vgl. Saarbrücker Zeitung Nr. 21 v. 25. 1. 95, S. 11.

 

durchaus aber auch 7.000 DM genannt werden, könnte das Kindergeld auf seine sozialpolitische Funktion beschränkt, d. h. als Transferleistung auf Bezieher niedrigerer Einkommen beschränkt werden, bei denen der Steuerfreibetrag keine nennenswerte Entlastungswirkung zeigt. Umgekehrt: Bei wachsendem Einkommen und steigender Entlastung durch den Kinderfreibetrag würde eine entsprechende Verminderung des Kindergeldes eintreten. Ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis von Kinderfreibetrag und Kindergeld würde im übrigen zur Reduzierung der zu hohen Staatsquote beitragen.

 

- Zur Verzahnung von beidem durch Verrechnung des Steuervorteils aus dem Freibetrag mit dem Kindergeld siehe Thiele, lt. Handelsblatt v. 17. 1. 1995.

 

 

Ehegattensplitting

 

Wenn ich mich jetzt dem Splittingverfahren bei der Besteuerung von Ehegatten (§§ 26 EStG, 32 a Abs. 5 EStG) zuwende, tue ich das aus doppeltem Grunde: zum einen, weil heute vielfach an seiner Berechtigung überhaupt gezweifelt wird, zum anderen, weil man seinen Abbau jedenfalls zur Finanzierung der anderen familienpolitischen Maßnahmen fordert.

 

Bekanntlich führt das Splittingverfahren im Vergleich zur getrennten Veranlagung in vielen Fällen zu einem anderen Besteuerungsergebnis. Besonders deutlich ist der Unterschied bei Alleinverdienern, in denen ein Ehegatte das Gesamteinkommen allein erzielt. Bei getrennter Veranlagung würde das Einkommen des Alleinverdieners aufgrund des progressiven Tarifs einem höheren Steuersatz unterworfen, als dies beim Splitting der Fall ist, bei dem sich der Steuersatz gemäß dem hälftigen Gesamteinkommen aus dem Einkommensteuertarif ergibt.

 

Dieser Splittingeffekt wird oft als Steuervergünstigung eingestuft, durch deren Abbau man ein erhebliches Finanzierungspotential erschließen zu können glaubt. Entsprechend motivierte Bestrebungen zur Abschaffung oder jedenfalls Verringerung des Splitting gibt es sowohl in der SPD als auch in der CDU. Dazu ist zunächst festzustellen, daß die Steuermehreinnahmen, die man durch den Abbau des Splitting erzielen zu können glaubt, meist weit überschätzt werden. Vor allem wird aber übersehen, daß das Ehegatten-Splitting tatsächlich gar keine Steuervergünstigung darstellt, sondern - sowohl für Ehepaare mit wie für solche ohne Kinder - ein sachgerechtes Besteuerungsverfahren gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip.

 

Das Splittingverfahren trägt den Gegebenheiten, die in Ehen heutzutage typischerweise vorherrschen, in angemessener Weise Rechnung. Die Ehe ist zu begreifen als eine Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft gleichberechtigter Partner, in der die Ehegatten das oder die Einkommen in einen gemeinsamen Topf fließen lassen und in gleichrangiger Weise am Gesamteinkommen teilhaben. Dieses Ehebild steht auch im Einklang mit den Grundwertungen des Familienrechts. Die Institute des Zugewinnausgleichs, des Versorgungsausgleichs und z. B. der gegenseitigen Verpflichtungsbefugnis (§ 1357 BGB) - sprich Schlüsselgewalt - lassen den Grundsatz erkennen, daß das während der Ehe Erwirtschaftete gemeinschaftlich erwirtschaftet ist.

 

            - BVerfG, BStBl. II 1982, 726.

 

Bei diesem Ehetypus der Erwerbs- und Wirtschaftsgemeinschaft mit gleichrangiger Teilhabe am Einkommen wird die Leistungsfähigkeit der Ehegatten jeweils durch die Hälfte des ehelichen Gesamteinkommens repräsentiert. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlangt dann ein Verfahren der Ehegattenbesteuerung, das dieser Einkommenszusammenlegung und -aufteilung Rechnung trägt. Das geltende Ehegattensplitting stellt ein entsprechendes Verfahren dar.

 

Wenn es aber so ist, daß das Ehegattensplitting für typische Eheverhältnisse ein am Schutzgebot des Art. 6 GG orientiertes, angemessenes Besteuerungsverfahren gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip ist, dann sind die sich hieraus ergebenden Besteuerungsergebnisse keine Steuervergünstigungen, die beliebig zur Disposition gestellt werden könnten. Von daher ist der Forderung, den Splittingeffekt bei Beziehern höherer Einkommen zu kappen, eine entschiedene Absage zu erteilen. Wer den Splittingvorteil kappt, besteuert viele Ehepaare mit einem Verdiener deutlich höher als Ehepaare und nichteheliche Gemeinschaften mit zwei Verdienern und vergleichbaren Gesamteinkommen. Auch eine Verringerung des Splittingdivisors läßt sich nicht überzeugend begründen. Dies hat auch der 57. Deutsche Juristentag nachdrücklich bekräftigt.

 

- NJW 1988, 3007: "Das Ehegattensplitting ist uneingeschränkt beizubehalten. Es stellt keine Steuervergünstigung dar, sondern beruht auf der verfassungsrechtlichen Vorzugsstellung der Ehe auch als Erwerbsgemeinschaft vor sonstigen Formen des gemeinsamen Lebens und entspricht der zivilrechtlichen Ordnung der überwiegenden Mehrheit der Eheverhältnisse (Zugewinnausgleich, Versorgungsausgleich)".

 

Meine Damen und Herren! Wenn es so wäre, daß die jüngsten Vorschläge zur Kappung des Ehegattensplitting aus SPD und Teilen der Union lediglich einer Mischung aus fiskalischem Denken und steuersystematischen Verständnisdefiziten entspränge, wäre das halb so schlimm. Solche Verständnisdefizite ließen sich mit Überlegungen wie den vorgetragenen früher oder später beheben. Ich teile diesen Optimismus aber nicht. Wenn man die genannten Vorschläge im Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschafts- und familienpolitischen Grundüberzeugungen betrachtet, denen einige ihrer Urheber anhängen, so zeigt sich, daß die Splittingdiskussion über das Steuerrecht weit hinausweist.

 

Mit der Infragestellung des Ehegattensplitting wird weniger der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als solcher in Zweifel gezogen, sondern seine Prämissen im diskutierten Kontext. In Zweifel gezogen wird vielmehr die Grundannahme, von der sich der Gesetzgeber bei der Einführung des Splitting im Jahre 1958 leiten ließ, nämlich die Überzeugung, daß Ehe bzw. Familie auf Grund ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihrer grundgesetzlich verankerten besonderen Schutzwürdigkeit auch steuerlich als einheitliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft anzusehen sei.

 

Was das Bundesverfassungsgericht noch 1982 als "wirtschaftliche Realität der intakten Durchschnittsehe" angesehen hat, nämlich die autonome, arbeitsteilige Aufteilung von Erwerbs- und anderen Funktionen innerhalb der ehelichen Gemeinschaft, ist 12/13 Jahre später anscheinend in weiten Kreisen in Mißkredit geraten. Daß es - ungeachtet zunehmender Versuche gesellschaftlicher Herabqualifizierung durch die Apostel einer höchst einseitig verstandenen Emanzipation - auch 1994 und 1995 weiterhin Frauen gibt, die sich die Freiheit nehmen, im Rahmen familiärer Aufgabenteilung vorwiegend andere Funktionen als diejenigen des Broterwerbs wahrzunehmen, wird zunehmend als gesellschaftliche Realität minderen Ranges abgetan - getreu der Devise von Morgensterns "Palmström": "daß nicht sein kann, was nicht sein darf". So ist es nur konsequent, ein derartiges der Erfüllung des frauenpolitischen Plansolls im Wege stehendes Verhalten nun auch steuerlich zu bestrafen. Nichts anderes wäre nämlich das Ergebnis der genannten Vorschläge, die ja die Kosten des angestrebten sog. "Familienlastenausgleichs" vorwiegend denjenigen Ehepaaren aufbürden wollen, bei denen ein Ehegatte bisher dank der Entlastung von anderen Aufgaben durch einen nicht oder nicht voll erwerbstätigen Ehepartner ein überdurchschnittliches Einkommen erzielt.

 

Ungeschoren bleiben dagegen diejenigen Ehepaare und Familien, die sich - häufig unter Forderung nach Schaffung zusätzlicher Kindergartenplätze durch die Gesamtheit der Steuerzahler - für eine Berufstätigkeit beider Eheleute entscheiden, jedenfalls soweit beruflicher Arbeitseinsatz und damit Einkommen beider Eheleute annähernd gleich sind. Wenn man die ständigen Versuche der politischen Parteien, das Steuerrecht in allen denkbaren Bereichen als Instrument gesellschaftspolitischer Verhaltenssteuerung zu gebrauchen und zu mißbrauchen, fällt es schwer, ausgerechnet hier an Zufall zu glauben.

 

Wem an der Sicherung der verfassungsrechtlich verbürgten familiären Entscheidungsfreiheit über die Art und Weise der innerfamiliären Arbeitsteilung gelegen ist, wem damit an der Wahrung der Gleichwertigkeit der jeweiligen Leistung - Beruf einerseits und Haushalt einschließlich Kindererziehung andererseits - liegt, tut gut daran, die Vorschläge zum Abbau des Ehegattensplitting nicht als fiskalisch motivierte steuerpolitische Fehlzündungen abzutun, sondern sie als grundgesetzlich fragwürdige Eingriffe in die Autonomie von Ehe und Familie zurückzuweisen.

 

Sie mögen mir vorhalten, daß ich hier zum Opfer einer selbstkonstruierten Verschwörungstheorie werde. Dazu kann ich nur sagen: Ich würde mich freuen, wenn das so wäre. Ich glaube das aber nicht.

 

Als Ergebnis meiner Überlegungen möchte ich also festhalten: Durch das Splittingverfahren wird sichergestellt, daß die Bemessungsgrundlage in sachgerechter Weise auf die Ehegatten aufgeteilt wird und damit auch der Tarif seine Belastungsfunktion für jeden einzelnen Ehegatten und für die Ehegemeinschaft insgesamt erfüllen kann. Als Finanzreserve der Familienpolitik ist das Ehegattensplitting schlechterdings nicht geeignet.

 

Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, in welcher Höhe das Existenzminimum der Ehegatten bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen ist. Insofern wird immer wieder darauf hingewiesen, daß es bei zusammenlebenden Ehegatten zur sogenannten Haushaltsersparnis komme, weil die Kosten zusammenlebender Personen pro Person gerechnet geringer sind als die Alleinstehender. Daraus wird dann gefolgert, Ehepaaren dürften nicht zwei volle Grundfreibeträge zustehen, vielmehr sei der zweite Grundfreibetrag niedriger anzusetzen.

 

Ich finde, daß das Argument der Haushaltsersparnis als solches nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Der Bundesfinanzminister denkt offenbar, wie heute berichtet wird, in dieser Richtung. Und trotzdem sind gegen die Reduzierung des zweiten Grundfreibetrages schwerwiegende Vorbehalte anzubringen. Zunächst ist einzuwenden, daß es zur Haushaltsersparnis auch bei Personen kommt, die in nicht-ehelicher (Haushalts-)Gemeinschaft zusammenleben. In solchen Fällen kommt aber nur die getrennte Veranlagung in Betracht. Daher dürfte es kaum praktikable Möglichkeiten geben, auch in diesen Fällen die Haushaltsersparnis durch reduzierte Grundfreibeträge zu berücksichtigen. Ähnliches gilt für Ehepaare, bei denen beide ein etwa gleich hohes Einkommen beziehen. In solchen Fällen kommt es durch das Splittingverfahren ja nicht zu einer Verminderung der Steuerbelastung. Deshalb können sich diese Ehepaare ohne weiteres für die getrennte Veranlagung entscheiden und sich so ebenfalls die doppelten Grundfreibeträge sichern. Daher ergäbe sich eine ungerechte und verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Benachteiligung zusammenveranlagter Ehegatten, wenn die Haushaltsersparnis nur bei ihnen durch reduzierte Grundfreibeträge berücksichtigt würde. In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, daß das Bundesverfassungsgericht schon im Jahre 1957 seine Ablehnung gegen eine steuerliche Berücksichtigung von Haushaltsersparnissen deutlich gemacht hat. Es hat damals erklärt, daß die Möglichkeit von Einsparungen in der Lebenshaltung im gesamten übrigen Einkommensteuerrecht als Faktor der Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt werde; dieser Gesichtspunkt sei also systemfremd.

 

            - BVerfG, BStBl. I 1957 S. 199.

 

Mein Fazit ist also - und das ist keineswegs nur mein persönliches Credo: Im Interesse einer gerechten Besteuerung gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip sollte das Ehegattensplitting bei der anstehenden Tarifreform ohne Wenn und Aber beibehalten und Ehegatten - wie bisher - ein doppelter Grundfreibetrag gewährt werden.

 

 

Familiensplitting

 

Meine Damen und Herren, ich bin mir sehr wohl im klaren darüber, daß ich mich mit meinem Plädoyer in ziemlich konventionellen Bahnen bewege. Auf ungesichertes Terrain begibt man sich, wenn man über Konzepte eines Familiensplitting nachdenkt. Diese sind als Idee nicht neu, die CDU hat sich bis in die jüngste Zeit mehrfach hierzu bekannt;

 

- Siehe Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Familiensplitting und einheitliches Kindergeld, Sonderinformation 21, Mai 1994, S. 6 mit Fn. 21.

 

sie würden aber eine Neuorientierung der Familienbesteuerung bedeuten.

 

Ich möchte zunächst das tarifliche Familiensplitting und dann das Familienrealsplitting skizzieren.

 

Bei einem tariflichen Familiensplitting würden die Familien zusammenveranlagt, und zwar in der Weise, daß entsprechend der Technik des Ehegattensplitting das Gesamteinkommen der Familie fiktiv auf die einzelnen Familienmitglieder aufgeteilt würde. Dann würde es dem Tarif unterworfen, mit der Folge, daß eine mit der Anzahl der Familienmitglieder (und damit der Höhe des Splittingfaktors) steigende Abmilderung der Progression stattfände. Problematisch ist die Bestimmung der Splittingfaktoren, die die Höhe der fiktiven Zurechnung an die Eltern und die Kinder festlegen. Nur ein Vollsplitting, also ein Splittingfaktor von eins für jedes Familienmitglied vermeidet bei jeder denkbaren tatsächlichen Einkommensverteilung eine Benachteiligung der zusammenveranlagten Familie. Wenn andere Splittingfaktoren, insbesondere geringere für die Kinder, gewählt werden, muß die Möglichkeit einer getrennten Veranlagung (auf Antrag) offenstehen, um eine Kollision mit Art. 6 Abs. 1 GG zu vermeiden.

 

Der Vorschlag eines Familienrealsplitting hält demgegenüber an der Individualbesteuerung der einzelnen Familienmitglieder fest. Er überträgt die Grundsätze der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 22 Abs. 1 Nr. 1 a EStG für die Besteuerung des Unterhalts an den geschiedenen Ehegatten auf die Unterhaltsverpflichtungen in der intakten Ehe und Familie. Der Unterhaltsverpflichtete soll danach die Unterhaltszahlungen bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens abziehen, während der Unterhaltsberechtigte sie zu versteuern hat. Der Höhe nach soll eine Orientierung an den zivilrechtlichen Unterhaltspflichten stattfinden und die grundsätzlich hälftige Zurechnung bei Ehegatten beibehalten werden.

 

Wenn man diese beiden Lösungen vergleicht, so ist zum tariflichen Familienvollsplitting zu sagen, daß es sich ein gutes Stück von den zivilrechtlichen Regelungen und der wirtschaftlichen Realität lösen würde. Es würde die Kinder den Ehegatten gleichstellen, obwohl die Familie zwar wie die Ehe Erlebnis-, Entfaltungs-, Verantwortlichkeits- und auch Unterhaltsgemeinschaft ist, aber eben keine Wirtschaftsgemeinschaft im Sinne einer Erwerbsgemeinschaft. Die Kinder haben nur einen Anspruch auf angemessenen Unterhalt, bilden aber mit den Eltern keinen Erwerbsverbund. Ab einer gewissen Höhe wäre die Zurechnung von Einkommen zu den Kindern nicht mehr wirtschaftlich gerechtfertigt und damit unstreitig keine Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips mehr, sondern eine reine Förderungsmaßnahme des Staates. Diese kann nicht uneingeschränkt zulässig sein, da eine Familie mit hohem Einkommen einen höheren Vorteil durch ein derartiges tarifliches Familiensplitting hat als eine geringverdienende Familie. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat aus diesem Grunde bereits 1967 eine Verrringerung der Splittingfaktoren für Kinder ab einer bestimmten Einkommensgrenze vorgeschlagen.

 

- Gutachten zur Reform der direkten Steuern, S. 38; die damit vorgenommene Typisierung würde die Genauigkeit des Realsplitting jedoch nicht erreichen (Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 578 f.).

 

Diese Schwierigkeiten würde das Familienrealsplitting vermeiden, das die steuerrechtliche Behandlung der Familie von vornherein an den zivilrechtlichen Regelungen der Unterhaltsverpflichtungen orientiert. Dafür ergibt sich hier eine andere Hürde. Mit dem Einkommen und dem Status der Eltern steigen die zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen. Die Orientierung hieran ist nicht unproblematisch. Das Maß der steuerlichen Entlastung würde letztlich nach dem sozialen Status der Familie bestimmt.

 

Es ist die Frage, ob eine mit dem Einkommen steigende steuerliche Abzugsfähigkeit von Unterhaltszahlungen politisch durchsetzbar wäre. Begrenzt man aber zum Zwecke besserer Akzeptanz das Realsplitting durch Höchstbeträge oder setzt man einheitliche Abzugsbeträge beim Unterhaltsverpflichteten an,

 

- die der Unterhaltsberechtigte versteuern muß,

 

so ist man nicht mehr weit vom System realitätsgerecht bemessener Kinderfreibeträge entfernt.

 

Sie sehen, es ist nicht leicht zu entscheiden, ob man einer Beibehaltung des jetzigen Systems der Familienbesteuerung in verbesserter Form oder einer Umstellung auf ein Familiensplitting den Vorzug geben soll. Zu berücksichtigen ist bei dieser Entscheidung, daß unter dem jetzigen System Steuerpflichtige mit frei verfügbarem Einkommen - aber eben nur diese - ohnehin schon durch die Übertragung von Einkunftsquellen auf die Kinder die Wirkung eines Familiensplittings erreichen können. Konkret: Wer Vermögen besitzt oder ein Gewerbe betreibt, kann sich durch vertragliche und legale Aufteilung seines Gesamteinkommens faktisch den Splittingeffekt verschaffen. Hier droht ein Konflikt mit dem Gleichheitssatz. Denn das Postulat gleicher steuerlicher Behandlung gilt natürlich auch im Vergleich zwischen Familien mit geringem und mit großem Kapitalvermögen und zwischen Familien mit einer in Kapitalwerten erfaßten und deshalb übertragbaren Erwerbsgrundlage und mit der in der eigenen Arbeitskraft angelegten und deshalb nicht übertragbaren Erwerbsgrundlage. Die mit der übertragbaren Erwerbsgrundlage eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten legen es nahe, die Teilhabe von Kindern am elterlichen Einkommen im Rahmen von Unterhaltspflichtverhältnissen generell durch ein - eingeschränktes - Familiensplitting zu berücksichtigen. Über dessen genauen Zuschnitt wäre allerdings, wie gesagt, noch näher nachzudenken. Der Stein der Weisen ist hier, wie mir scheint, noch nicht gefunden!